Ein wilder Stier in Olympia

Herakles und der kretische Stier (Westmetope des Zeustempels)

Herakles und der kretische Stier auf der Westmetope des Zeus-Tempels von Olympia

Abguss: Archäologische Sammlung Wien, Inv.-Nr. 476
Original: Olympia, Archäologisches Museum L 89
470–456 v. Chr.

Diese Reliefplatte hing auf dem berühmten Zeus-Tempel in Olympia, einem Heiligtum, das gleich wie Delphi über Griechenland hinaus bedeutend war. Die Platte zeigt den Helden Herakles bei einem seiner Abenteuer, nämlich bei der Bändigung des Kretischen Stiers. Diesen Stier ließ der Meeresgott Poseidon auf Kreta wüten, um König Minos für einen Frevel zu bestrafen, bis ihn Herakles bändigte und nach Mykene brachte. Das Relief, eine sogenannte Metope, war außen am Tempel unter dem Dach angebracht und somit ein weithin sichtbarer Teil des Bauschmucks des Gebäudes. Der Zeus-Tempel wurde im 5. Jahrhundert vor Christus errichtet, genauer zwischen 472 und 456, und festigte Olympias Rang als eines der wichtigsten Kultorte des höchsten griechischen Gottes. Die Bedeutung von Olympia beruhte aber auch auf den dort abgehaltenen sportlichen Wettkämpfen, zu denen Tausende Menschen in diesen entlegenen Teil der Halbinsel Peloponnes pilgerten. Sport und Kult machten Olympia zu einem auch politisch wichtigen Ort, an dem beispielsweise antike Staatsverträge unter dem Schutz der Götter in Kraft gesetzt wurden.

Die Herakles-Metope ist fast so hoch wie ein erwachsener Mensch und so breit wie zwei Personen nebeneinander. Die Figuren des Herakles und des Stiers sind in der Form eines X angeordnet, wobei Herakles vor dem Tier platziert ist, und treten deutlich aus dem Reliefgrund hervor. Der Rumpf des Stieres verläuft leicht schräg über die Platte, sodass der Kopf das obere rechte Eck einnimmt. Das rechte Vorderbein streckt das Tier bis horizontal nach vorne aus und winkelt den unteren Teil stark an. Der Stier wendet den Schädel zu einer Dreiviertel-Ansicht, sodass das rechte Horn in den Plattenhintergrund übergeht und das heute verlorene linke Horn aus dem Relief herausragt, und blickt zurück zu Herakles. Der Körper und Schädel des Stieres sind in weichen Zügen gestaltet, die Konturen der Körperpartien sind sanft modelliert, nur die Schnauze und die linke Nüster sind stärker plastisch geformt. Zwischen den Hörnern überzieht den Stirnwulst eine rauere Oberfläche und rund um die Augen bilden sich Falten, ansonsten ist der Stierkörper fein geglättet.

Vor dem Stier steht Herakles im Ausfallschritt. Das linke Bein bis zur Hüfte ist nicht mehr erhalten, dennoch lässt sich die Körperhaltung des Helden nachvollziehen: Sein Oberkörper erstreckt sich von links oben nach rechts unten, am rechten unteren Rand der Reliefplatte befindet sich der Rest des linken Fußes. Der Körper des Herakles nimmt also die gesamte Diagonale der Platte ein. Während der rechte Arm zum linken äußeren Rand der Platte emporgestreckt ist, verläuft der linke Arm horizontal zum Kopf des Stieres. Aufgrund seiner extrem schrägen Körperhaltung drückt Herakles das Kinn auf das Schlüsselbein und die Brust. Herakles trägt eine ausdruckslose Miene. Er ist bärtig und sein Haar bildet über der Stirn und an den Schläfen einen Wulst. Wie der Stier ist auch Herakles in weichen, glatten Formen gestaltet. Kaum merklich hebt sich beispielsweise das rechte Ohr von der Haarmasse ab. Die Brust des Helden ist dagegen markant ausgearbeitet, sodass die Muskelpartien und das männliche Geschlechtsorgan plastisch hervortreten.

Die Metope gehörte zu einem größeren Zyklus, denn jede der zwölf Metopen auf dem Zeus-Tempel fügt sich in eine übergreifende Erzählung ein, eben jene der Abenteuer des Herakles. So erzählen die anderen Reliefplatten beispielsweise von der Erlegung des Nemeischen Löwen oder der Tötung der Hydra, eines neunköpfigen Monsters. Die Taten des Herakles waren in der griechischen Antike überaus beliebt, wurden in dieser Zusammenstellung aber erstmals auf dem Zeus-Tempel von Olympia gezeigt und fanden in der Antike und späteren Epochen vielfältige künstlerische Umsetzungen, so etwa in den monumentalen Skulpturen im Hof des Michaelertrakts der Wiener Hofburg.

(Maya Lerner)