Ein Kalb für Athena
Sogenannter Kalbträger
Abguss: Archäologische Sammlung Wien, Inv.-Nr. 545
Original: Athen, Akropolis Museum 624
560 v. Chr.
Diese Statue zeigt einen aufrecht stehenden, leicht bekleideten Mann, der auf seinen Schultern ein Kalb trägt und daher als der „Kalbträger“ geläufig ist. Gefunden wurde die Skulptur auf der Akropolis von Athen, dem zentralen Heiligtum auf dem Burgberg der Stadt, wo sie als Geschenk der Stadtgöttin Athena geweiht war. Das Original der Statue, heute im Akropolis-Museum in Athen zu sehen, datiert in die archaische Periode, genauer um 570 vor Christus, und ist aus hymettischem Marmor gefertigt. Bei dem Kalbträger handelt es sich nicht um eine naturgetreue Wiedergabe, sondern um die Darstellung eines Ideals. Die Statue setzt bildlich das Ideal eines kräftigen adeligen Mannes um, der auf die Akropolis steigt, um dort ein Kalb zu opfern. Dass es sich um einen wohlhabenden Stifter gehandelt haben muss, macht das Kalb deutlich, denn nur wohlhabende Personen konnten sich teure Opfertiere wie Rinder oder Kälber leisten.
Der Mann ist unterlebensgroß dargestellt. Seine Körperhaltung zeichnet sich durch Unbeweglichkeit, Starrheit und Frontalität aus, wie dies typische Merkmale von Statuen dieser Zeit sind. Einzigartig macht diese Skulptur die Darstellung des Opfertieres, denn nur sehr selten werden in der archaischen Plastik Menschen gemeinsam mit Tieren ins Bild gesetzt. Der Mann ist nackt abgesehen von einem dünnen Mantel, der eng am Körper anliegt und auf der Vorderseite offen steht. An den Armen reicht der Stoff bis zu den Ellenbogen, an den Beinen bis zu den Knien. Der Mantel verhüllt den Körper aber nicht, sondern betont vielmehr dessen muskulösen Bau. Die Taille ist schmal, dafür sind die Schultern umso breiter. Seine Arme hält der Mann angezogen und presst die Unterarme an die Brust, um die Hufe des Opferkalbes auf seinen Schultern festzuhalten. In seinem starr nach vorne gerichteten Gesicht sind das Kinn und die Bartspitze nicht mehr erhalten. Dennoch lässt sich der Bart gut erkennen, da er sich mit einer klaren Kante von den glatten Wangen absetzt. Die Mundwinkel sind leicht nach oben gezogen und deuten ein sanftes Lächeln an.Dieses sogenannte „archaische Lächeln“ drückt aber keine anlassbezogene Freude aus, sondern transportiert ein Ideal von Jugend und Lebendigkeit. In den weit geöffneten Augen geben Vertiefungen an, wo ursprünglich die Iris mit farbiger Glaspaste ausgefüllt war. Die langen Haare des Mannes bilden oberhalb der schmalen Stirn kugelige Knoten oder Perlen und gliedern sich in zwei Reihen, über denen ein Haarband um den Kopf läuft. Hinter den Ohren fallen jeweils drei lange Perlensträhnen auf die Schultern herab.
Das Kalb auf den Schultern des Mannes dreht den Kopf ebenfalls nach vorne, sodass die Köpfe von Mensch und Tier dieselbe Höhe und Blickrichtung einnehmen. Der Gesichtsausdruck des Kalbes ist sanft und die Körperhaltung ruhig. Der Körper des Tieres ist ebenfalls plastisch ausgearbeitet, besonders an den Beinen und deren Muskeln. Das Kalb liegt eng am Körper des Mannes an und sein Schwanz schmiegt sich förmlich an den Oberarm des Menschen. Die physische Verbindung verbildlicht die Einheit zwischen Kalbträger und Opfertier, die sich gewissermaßen gemeinsam und im Konsens zum Opfer aufmachen. Obwohl sie Idealbilder umsetzt – sowohl jenes des schönen jungen Mannes aus der Oberschicht als auch des Opfertieres, das sich bereitwillig in sein Opfer fügt –, illustriert die Statue das bunte Treiben, das der Kultbetrieb auf der Athener Akropolis abgab.
(Katharina Göschelbauer)