Der Löwe und der Stier

Relief mit Tierkampf

Relief mit Tierkampfgruppe
Abguss: Archäologische Sammlung Wien, Inv.-Nr. 378
Original: Paris, Louvre N 1696
460/50 v. Chr. (oder römische Kaiserzeit)

Ein häufiges Motiv der antiken Bildwelt ist der Kampf zwischen zwei Tieren, häufig zwischen wilden, starken oder gefährlichen Tierarten. So auch bei dem Gipsabguss der Wiener Sammlung: Das Relief, das ungefähr halb so hoch ist wie ein erwachsener Mensch, zeigt einen Löwen, der einen Stier reißt. Das Original zu diesem Gipsabguss besteht aus Marmor und befindet sich heute im Louvre in Paris. Anhand des Stils, in dem die Tiere gearbeitet sind, lässt sich das Relief in die griechische Klassik datieren, ungefähr um 460/50 vor Christus. Da man die Herkunft und den Aufstellungsort des Reliefs nicht kennt, wird in jüngerer Zeit aber auch in Erwägung gezogen, dass das Relief bedeutend jünger ist, nämlich erst in der frühen römischen Kaiserzeit entstand.

Der Löwe hat den Stier von vorne angegriffen und mittlerweile die Oberhand gewonnen, sodass er auf den Rücken des Stiers klettert und gleich zubeißen wird. Die Vorderbeine des Stiers sind bereits eingebrochen und der Schädel sinkt zu Boden, weshalb die beiden Tiere annähernd gleich groß wirken. Das Maul des Löwen ist gefletscht und legt die spitzen Reißzähne frei – die Darstellung macht also klar, dass die Raubkatze den Kampf gleich durch einen Biss für sich entscheiden wird. Die Details der Tierdarstellungen verdienen besondere Aufmerksamkeit: Die Mähne des Löwen ist in feinen Haarsträhnen ausgearbeitet, während der Rest des Körpers geglättet ist und auf die Wiedergabe von Fell verzichtet. So sind die Muskelpartien an den Schultern und Hinterbeinen ebenso erkenn- und ertastbar wie die markanten Rippen oder die Krallen und Adern der Tatzen. Fein ausgearbeitet sind auch einzelne Falten an der Schnauze des Löwen, die sich durch das Aufreißen des Maules bilden.

Besondere Mühe verwandte der Bildhauer auf die Ausarbeitung des Stieres, etwa auf die kleinteilige Wiedergabe des Fells an der Stirn. Der Wulst zwischen den Hörnern ist dementsprechend mit feinen Härchen bedeckt, die sich bis zur Schnauze ziehen. Außerdem sind die Nüstern weit gebläht und tief in den Stein gearbeitet, und auf dem Hals des Stiers bilden sich aufgrund der Drehung und des Zubodensinkens des Schädels tiefe Falten, die mit den Mitteln der Bildhauerei eine ledrige Textur umsetzen. Das Wechselspiel aus den glatten Flächen der Körper, den Strähnen der Löwenmähne und den Falten der dicken Stierhaut lässt die Tiere lebendig und lebensecht wirken. Unterstrichen wird dieser Eindruck durch die plastisch modellierten Muskelpartien und Rippen, aber auch durch den auf dem Relief dargestellten Moment, der den entscheidenden Zeitpunkt im Todeskampf des Stieres einfängt.

(Lisa Schlamp)