Eine Gans im Würgegriff

Eine Gans im Würgegriff eines Kleinkindes, Detailaufnahme

Sogenannter Ganswürger

Abguss: Archäologische Sammlung Wien, Inv.-Nr. 1392
Original: München, Glyptothek 268
römische Kopie nach einem Original aus der zweiten Hälfte des 3. Jh. v. Chr.

Diese berühmte Statuengruppe wird in der Forschung eingängig als „Ganswürger“ bezeichnet und zeigt einen kleinen Jungen, der genau dies tut, nämlich den Hals einer Gans energisch an seine Brust zieht und das Tier würgt. Das Kind ist gerade alt genug, dass es laufen kann, und hat sich mit der Gans einen Spielpartner oder Gegner gesucht, der ihm an Größe und Kraft kaum nachsteht. Im Eifer des Spiels oder Streits hat sich der Bub die Gans geschnappt und mit seinem linken Arm den Hals und einen Flügel des Tieres an sich gepresst. Der Bub steht breitbeinig da und stemmt seine Beine fest in den Boden, würde aber das Gleichgewicht verlieren und nach hinten kippen, wäre da nicht als Gegengewicht die Gans, die sich aus dem Würgegriff befreien will und sich von dem Kind wegdrückt.

Das Kleinkind ist eindeutig als solches zu identifizieren, denn es hat eine kleine breite Nase und dicke Wangen, die das Gesicht rundlich formen. Zudem zeigen der Bauch, die Oberschenkel und die Oberarme typischen Babyspeck. Das Haar ist mittellang und lockig, wird aber von einem Knoten über der Stirn zusammengehalten. Nicht weniger realistisch ist die Gans gearbeitet, die sich mit aller Kraft wehrt: Ihr Gefieder am Körper ist detailreich und geordnet, jenes des Flügels hingegen zerzaust durch den Würgegriff des Kindes, unter dem sich auch der zur Brust gedrückte Gänsehals krümmt, und die Augen sind ebenso weit aufgerissen wie der Schnabel, der den Blick freigibt auf die Zunge des Tieres.

Der Realismus dieser Darstellung ist typisch für Bildwerke aus dem Hellenismus, und tatsächlich lässt sich der Ganswürger in die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts vor Christus datieren. Für diese Epoche charakteristisch sind aber auch Statuen, die scheinbar alltägliche Situationen thematisieren, hier etwa das Spiel oder Kräftemessen eines Kindes, und zugleich mit hoher Dynamik bestimmte Situationen oder kurze, aber entscheidende Momente einfangen. Nicht zuletzt ist an der Ganswürgergruppe für die Zeit typisch, dass man sie von mehreren Seiten betrachten kann und sich jeweils andere Eindrücke von der räumlichen Anordnung und Relation der Figuren ergeben.

Bei der Vorlage für den Gipsabguss handelt es sich um eine Statue, die sich heute in der Glyptothek in München befindet und selbst eine römische Kopie eines griechischen Originals wahrscheinlich aus Bronze darstellt. Bei den Römer war die Darstellung des Ganswürgers beliebt und wurde mehrfach kopiert, vor allem für die dekorative Ausgestaltung luxuriöser Villen rund um Rom und ihrer Gartenanlagen. Wo in der griechischen Welt das heute verlorene Original aufgestellt war und welche Funktion dieses ungewöhnliche Bild eines Ringkampfs zwischen Mensch und Tier hatte, wissen wir hingegen nicht.

(Lisa Schlamp)