Klagen, Weinen, Trauern – Tod und Bestattung in bildlichen Medien der Spätbronzezeit Griechenlands
Benjamin Huber
Da erklärende schriftliche Quellen fehlen, steht die Erforschung der Bilderwelt der bronzezeitlichen Kulturen Griechenlands immer wieder vor Herausforderungen. Insbesondere die Frage nach der bildlichen Darstellung von Emotionen und Emotionalität gestaltet sich ohne das Wissen um zeitgenössische Begrifflichkeiten und Konzepte schwierig. So geben die Linear-B-Texte lediglich Auskunft über administrative Abläufe, nicht aber über den sozialen und normativen Rahmen, innerhalb dessen Emotionen geäußert und verstanden wurden. Aus zahlreichen Texten des klassischen Altertums lassen sich hingegen solche Aspekte herauslesen und ermöglichen eine Annäherung an die bildliche Umsetzung von Emotionalität, aber die Aussagen dieser späteren Quellen lassen sich kaum auf die Kulturen der ägäischen Bronzezeit im 2. Jahrtausend v. Chr. übertragen. Wie lässt sich nun ausschließlich auf der Grundlage von Bildmedien nachvollziehen, wie Emotionen in dieser Zeit geäußert, normiert und verstanden wurden?
Emotionen und Emotionalität als analytische Kategorie
Aus der ägäischen Bronzezeit ist ein weites Spektrum an bildlichen Darstellungen überliefert, aber nicht in allen Bildkontexten und Bildthemen ist gleichermaßen mit der Äußerung von Emotionen zu rechnen. Als Untersuchungsgegenstand bieten sich besonders der Grabbereich und die Wiedergabe von Bestattungsritualen an. Zahlreiche Beispiele aus der ausgehenden Bronzezeit zeigen Szenen, die sich auf die Bestattung und die damit verbundenen Rituale, wie etwa die Totenklage, die Prothesis, die Aufbahrung des Leichnams, sowie die Ekphora, die Überführung des Leichnams in einer Prozession zum Ort der Bestattung, beziehen.
Wie lassen sich aber Emotionen erkennen und innerhalb des szenischen Gefüges dieser Bilder verstehen und interpretieren? Die Äußerung von Emotionen in bildlichen Medien zu untersuchen bedeutet, sich auf Gestik und Mimik zu konzentrieren. Steht bei der Analyse schriftlicher Quellen die Sprache im Fokus, rückt bei diesem Ansatz die Visualisierung des Körpers und körperlicher Praktiken in das Zentrum des Interesses. Gesten, Mimik, Körperhaltung und Körperreaktionen wie Weinen oder eine veränderte Herzfrequenz, aber auch Denkprozesse sind untrennbar mit der Äußerung von Emotionen verbunden und können somit als körperliche Praktiken aufgefasst werden. Diese gilt es in der Analyse der Bilder ‚aufzuspüren‘. Gesten und Handlungen, die sich auf die Äußerung von Emotionen beziehen, können sich zu immer wiederkehrenden ikonographischen Chiffren verfestigen, die mitunter nur in bestimmten Kontexten – wie etwa im Rahmen von Bestattungsritualen – Verwendung finden. Ein zentrales Kriterium ist dabei auch die Frage nach der geschlechtsspezifischen Dimension der Gesten. In einem weiteren Schritt lässt sich aus dem, was dargestellt wurde, aber auch aus dem, was nicht dargestellt wurde, auf die ‚emotionalen Standards‘ einer Gesellschaft schließen. Diese Standards stecken den normativen Rahmen ab, innerhalb dessen sich Verständnis, Erfahrung und Artikulation von Emotionen und Emotionalität bewegten.
Der Umgang mit dem Tod in der Bildkunst der ägäischen Bronzezeit
In spätmykenischer Zeit bildet sich eine klare Ikonographie von Tod, Trauer und Bestattungsritualen aus, die sich in dieser Form in vorhergehenden Perioden nicht beobachten lässt. Bis ca. 1400 v. Chr. kennt die frühägäische Bildkunst keine Darstellungen im Kontext der Bestattung. Ab dieser Phase finden sich bis zur ausgehenden Bronzezeit in der Ägäis um 1100 v. Chr. allerdings zahlreiche Belege für die Thematisierung von Tod und Trauer in der Bildkunst. Gleichsam lassen sich anhand der ikonographischen Zeugnisse unterschiedliche Traditionen im Umgang mit diesen Aspekten beobachten.
Die frühesten Darstellungen sepulkralen Inhalts finden sich auf Larnakes, die auf Kreta freigelegt wurden. Diese tönernen Truhen dienten zur Bestattung und fanden insbesondere in der späten Bronzezeit Kretas weite Verbreitung. Vereinzelt finden sich frühe Beispiele, die mit Szenen, die weibliche Figuren mit Klagegesten oder die Aufbahrung des Leichnams zeigen (Abb. 1), bemalt sind. Doch in der Folgezeit verlagerte sich der Fokus auf die Visualisierung von Jenseitsvorstellungen. So zeigt die Mehrheit der kretischen Larnakes Darstellungen mit floralen Motiven wie etwa Papyruspflanzen sowie mit Wasservögeln, Meerestieren und Jagdszenen (Abb. 2). Diese pflanzlichen Motive und landschaftlichen Szenen sind der Bildwelt Ägyptens entlehnt, in der das Jenseits als Insel, auf der sich die Verstorbenen an einer reichhaltigen Flora und Fauna laben konnten, dargestellt wurde. Eine unmittelbare Umsetzung von Emotionalität ins Bild lässt sich damit nicht beobachten. Vielmehr offenbaren diese Zeugnisse, dass eine Äußerung und Darstellung der Trauer in der Bildkunst nicht den gesellschaftlich-normativen Ansprüchen im Umgang mit dem Tod entsprachen.
Anders gestaltet sich die Situation auf dem griechischen Festland. Im Gegensatz zu Kreta lag hier der Fokus in der sepulkralen Bildkunst auf der Visualisierung von Aspekten und Ritualen, die Bestandteil der Bestattungszeremonie sind und dabei auch auf die Äußerung von Emotionen Bezug nehmen. Das Quellenmaterial aus zahlreichen Nekropolen reicht von figürlich bemalten Larnakes und Gefäßen über Fresken bis hin zu Statuetten in Form von Klagefrauen. Zentrale Themen im ikonographischen Repertoire bilden die rituelle Totenklage, die Aufbahrung sowie auch die Überführung des Leichnams zum Ort der Bestattung. In quantitativer Hinsicht überwiegen Darstellungen von weiblichen Figuren, die beide Arme erheben und mit den Händen zumeist den Kopf berühren (Abb. 3). Hierbei handelt es sich um eine ikonographische Chiffre, die der Visualisierung von Trauer und Totenklage dient und somit der Äußerung von Emotionen und Emotionalität im Bild Ausdruck verleiht.
Emotionen im Bild oder ein Bild der Emotionen?
Ein genauerer Blick auf zwei Fallbeispiele veranschaulicht den Umgang mit Trauer und die Verbildlichung von Emotionalität in der spätmykenischen Ikonographie. Die Längsseite einer Larnax aus Tanagra (Abb. 4) zeigt, wie zwei Frauen in langen Roben einen Leichnam in eine tönerne Truhe wie den Bildträger selbst legen. Das zentrale Geschehen wird von zwei weiteren weiblichen Figuren gerahmt, die ihre Hände an den Kopf legen bzw. schlagen und sich durch diese Gesten als Klagefrauen zu erkennen geben. In den – erst deutlich später datierenden – homerischen Epen (Ilias und Odyssee) finden sich Hinweise, was mit diesem spezifischen Gestus visualisiert wurde. So könnte damit etwa das Raufen der Haare oder aber das Zerkratzen des Gesichtes gemeint sein, was bei Homer als expressive Äußerung der Trauer beschrieben wird. Ungeachtet dieser Deutungen wird damit wohl aber vor allem heftiges Gestikulieren, begleitet von lautem Klagen, als Ausdruck der Trauerbekundung visualisiert. An den Hälsen der Klagenden sind zudem die herabfließenden Tränen in Form von Linien angegeben. Die Tränen, Gesten und der Fokus auf den Moment der Beisetzung erlauben es, auch isoliert mit diesem Gestus wiedergegebene Figuren als Klagende zu identifizieren.
Die geschlechtsspezifische Dimension der Artikulation von Trauer wird anhand einer Szene der Aufbahrung eines Leichnams auf einem Fragment eines Kraters, eines größeren Mischgefäßes, deutlich (Abb. 5). Am Fußende der Bahre befinden sich zwei weibliche Figuren in langen Roben, die abermals mit Klagegesten wiedergegeben sind. Ein mit einem Schurz bekleideter Mann mit Kultgerät am Kopfende der Bahre fungiert als Leiter der Bestattungszeremonie. Das Klagen, die Äußerung der Trauer, obliegt somit primär den weiblichen Protagonistinnen im Ritualgeschehen, männlichen Teilnehmern kommen hingegen andere Funktionen und Aufgaben zu. Ausnahmen scheinen diese Regel zu bestätigen – der durch seinen Schurz als männlich charakterisierte Verstorbene ist ebenfalls mit einem Klagegestus wiedergegeben. Ein gestikulierender Leichnam wirkt seltsam, doch kann darin auf symbolischer Ebene der Abschied des Verstorbenen von seinem Familienverband gesehen werden, der durch die weibliche Figur am Fußende sowie die kleinere Figur, wohl ein Kind, am Kopfende der Bahre repräsentiert wird. So wird der Ausdruck der Trauer auch auf den Verstorbenen projiziert, der seinerseits das Zurücklassen der Familie beklagt.
Die zahlreichen Beispiele aus der sepulkralen Bildkunst der spätmykenischen Zeit führen vor Augen, wie unterschiedlich sich die sozialen Normen hinsichtlich der Äußerung von Emotionen und Emotionalität abhängig vom geographischen Kontext gestalteten. Während auf Kreta insbesondere die Thematisierung des Jenseits im Vordergrund stand und eine explizite Visualisierung von Trauer und Klage offenbar nicht den gesellschaftlichen Vorstellungen entsprach, war hingegen auf dem griechischen Festland genau dieser Aspekt entscheidend. So spiegeln die ikonographischen Zeugnisse soziale Konventionen und Ansprüche im Umgang mit Emotionen und Emotionalität wider und erlauben auch Rückschlüsse auf die Frage, wie die Akteure und Akteurinnen im Bestattungsritual die Trauer in angemessener Weise zu bekunden hatten.
Weiterführende Literatur
- A. Dakouri-Hild, The Most Discouraged Mycenaeans. Performing Emotion and Death in Late Bronze Age Tanagra, Greece, JFieldA 46, 349–381, <https://doi.org/10.1080/00934690.2021.1929702> (11.02.2022).
- M. Kramer-Hajos, Mourning on the Larnakes at Tanagra. Gender and Agency in Late Bronze Age Greece, Hesperia 84, 2015, 627–667.
- M. Scheer, Are Emotions a Kind of Practice (and Is That What Makes Them Have a History)? A Bourdieuian Approach to Understanding Emotion, History and Theory 51, 2012, 193–220.
- P. N. Stearns – C. Z. Stearns, Emotionology. Clarifying the History of Emotions and Emotional Standards, The American Historical Review 90, 1985, 813–836.
- O. Vikatou, Kontinuitäten. Prothesis und Ekphora in der Kunst, in: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hrsg.), Mykene. Die sagenhafte Welt des Agamemnon (Darmstadt 2018) 260–263.