Vom Brautschleier zum Leichentuch: Wie muss frau fühlen?
Ines Guth
Grabrelief der Polyxena
Athen, Nationalmuseum, Inv. 733
um 440 v. Chr., vielleicht auch 460/50 v. Chr.
Abguss: Wien, Archäologische Sammlung, Inv. 546.b; Erwerbung 1889
Polyxena: Idealbild einer griechischen Frau
Emotionen in der griechischen Antike decken sich nicht immer mit jenen, die uns heute in den Sinn kommen, wenn wir gefragt werden, wie wir uns fühlen. Zwar sind Trauer, Zorn, Liebe und Ähnliches Gefühle, mit denen wir uns auch heute noch identifizieren können, doch erscheinen andere kaum noch nachvollziehbar. Zu diesen gehört auch eine Emotion, die im Altgriechischen aidós genannt wird und die beispielsweise bei Darstellungen auf Grabmälern eine Rolle spielt.
1882 wurde in der griechischen Stadt Larissa ein Marmorrelief gefunden, das eine junge Frau zeigt. Sie steht im Profil, sodass die Betrachtenden bloß ihre rechte Seite sehen können. Ihre Kleidung – ein Chiton und ein darüber drapierter Schleier, der sogenannte pharos – entsprechen der Mode des 5. Jahrhunderts v. Chr. In ihrer rechten Hand hält sie einen Granatapfel, ein Symbol der Unterwelt, während die Linke nach dem Rand ihres Schleiers greift. Nur wenige Details gibt es im Gesicht der Verstorbenen zu entdecken: Sie hält das Kinn nach unten gesenkt und scheint zu Boden zu blicken. Ihr Haar ist streng nach hinten gekämmt, wie es zur Zeit ihres Todes um 440 v. Chr. getragen wurde. Einzig ihr Name, der links auf der Grabstele eingemeißelt ist, gibt uns nähere Informationen über die junge Frau: Polyxenaía emmí – „Ich bin Polyxena“.
Eine Geste – zwei Gegensätze
Auf den ersten Blick wirkt das Relief für moderne Betrachter*innen unverständlich: Wieso hebt Polyxena ihren Schleier an? Verhüllt sie sich oder ist sie gerade dabei, das Tuch abzulegen?
Viele Darstellungen haben sich aus der griechischen Antike erhalten, die junge Frauen mit ihren Schleiern zeigen. In der archäologischen Forschung bezeichnete man die Geste, mit der Polyxena den pharos anhebt, zumeist als Anakalypsis: Jene Enthüllung, bei der – ähnlich wie bei modernen Hochzeiten – der Bräutigam zum ersten Mal den Schleier seiner zukünftigen Ehefrau lüftet. In diesen Szenen, die sich häufig auf Vasen finden, überkommt nicht nur den Bräutigam ein Gefühl der Spannung und Vorfreude. Auch der Betrachter versteht das sehnende Verlangen (peitho), welches die Darstellung erfüllt. Die junge Frau wird langsam einem faszinierten Blick preisgegeben, der für Außenstehende eigentlich in den Bereich des Verbotenen fällt.
Allerdings kann die Geste nicht immer so gedeutet werden. Auch trauernde Frauen und Verstorbene auf dem Weg ins Jenseits, wie unsere junge Polyxena, heben ihren Schleier. Sie verhüllen sich, doch warum?
Als der unbekannte Bildhauer diese Stele um 440 v. Chr. schuf, war den Betrachter*innen klar, dass diese verschleierte Frau eine starke Emotion ausdrückte: aidós. Im Deutschen findet man häufig den Begriff Scham als Übersetzung, doch ist das nur ein Teil dessen, was im antiken Griechenland darunter verstanden wurde. Aidós war jenes Gefühl, das ausgelöst wurde, wenn man einer Person begegnete, die man respektierte. Es war ein Gefühl von Anständigkeit, aber auch von Ehrerbietung, welches das soziale Zusammenleben regelte. So schreibt Platon (Protagoras 322c; Übersetzung Ines Guth): „Also entsandte Zeus, der sich sorgte, dass das Menschengeschlecht gänzlich zerstreut werden könnte, Hermes, der den Menschen aidós und Gerechtigkeit brachte, damit die Städte Ordnung erhielten und freundschaftliche Bande sie zusammenbrachten“. Aidós war für ihn eine menschliche Grundtugend.
Eine Frau, die aidós besaß, wusste sofort, wie sie sich in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation zu verhalten hatte, um nicht bloß ihren Respekt vor dem Gegenüber auszudrücken, sondern auch soziale Anerkennung für ihr bescheidenes Auftreten zu erhalten. Zurückhaltung und Demut waren das oberste Gebot. Aidós zählte somit zu einer der wichtigsten weiblichen Tugenden. Sie umfasste nicht nur eine Reihe von Verhaltensnormen, sondern zeigte sich auch in einem Dresscode: Der Schleier war für eine angesehene Frau ein obligatorisches Kleidungsstück, sobald sie das Haus verließ.
Kommunikation am Grab: Wer spricht für wen?
Das Praktizieren von Tugenden wie aidós bot griechischen Frauen eine Chance, nicht nur ihr eigenes Ansehen, sondern auch die bedeutsame Familienehre zu vermehren. Bescheidenes Verhalten und züchtige Kleidung – somit auch der Schleier – trugen dazu bei, diese Ehrbarkeit nach außen zu zeigen, und wurden somit zu einem wichtigen Symbol eines gehobenen sozialen Stands.
Polyxena trägt ihren Schleier auf dem Weg ins Jenseits. Sie befindet sich an der Schwelle von Leben und Tod und verhüllt sich, um ihren aidós zu bewahren. Ihr Anstand wird damit für die Hinterbliebenen eindeutig signalisiert. Durch die Bildsprache der Grabstelen konnten diese Errungenschaften auch einem Publikum gezeigt werden, das diese Frauen sonst nur zu bestimmten Anlässen zu Gesicht bekam. Der Griff an den Schleier ist ein Kommunikationsakt mit dem Publikum: Der Betrachter erkennt durch das Tuch, dass es sich um eine ehrbare Frau handelt, und doch kann er einen schnellen Blick auf sie erhaschen. Würde Polyxena noch leben, wäre dieser Augenblick schnell vorbei, sobald sie mit dem Schleier das Gesicht bedeckt.
Das Bild ruft so auch im Betrachtenden eine Emotion hervor. Man empfindet aidós, in Form von Respekt und Anerkennung des Gegenübers. Diese gilt aber nicht nur der Verstorbenen, sondern auch ihrer Familie, die ihr soziales Ansehen durch tugendhafte Frauen und Töchter steigern kann.
Aidós kann nicht in einem Vakuum existieren. Erst wenn eine ehrbare Frau einem Fremden begegnet, kann sie ihr Gefühl von Scham und Respekt durch das Verhüllen ihres Gesichts und den zu Boden gerichteten Blick zeigen. Ohne die Betrachter*innen, die das Abbild der Toten bestaunen, bleibt die Darstellung auf der Grabstele unvollständig, denn sie kann nur im Rahmen einer Handlung richtig verstanden werden. Wir erinnern uns: Dieselbe Geste – der Griff an den Schleier – kann im Brautgemach eine ganz andere, nämlich erotische Bedeutung haben.
Ohne Kontext stößt die griechische Bildkunst hier an ihre Grenzen. Doch durch das Medium der Grabstele und die klare Bezeichnung „Ich bin Polyxena“ kann hier das Ansehen der Verstorbenen klar ausgedrückt werden. Das Schamgefühl, das sie bei der Begegnung mit dem fremden Betrachter empfinden würde, als auch das Gefühl des Respekts gegenüber Polyxena vereinen Bild, Tote und Rezipient*innen unter dem Deckmantel einer einzigen Emotion: aidós.
Weiterführende Literatur
- S. Blundell, Clutching at Clothes, in: L. Llewellyn-Jones (Hrsg.), Women’s Dress in the Ancient Greek World (London 2002) 143–170.
- U. P. Boissevain, Zwei Grabsteine aus Larissa, AM 7, 1882, 77–80.
- D. L. Cairns, Aidōs. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature ²(Oxford 1999).
- D. L. Cairns, The Meaning of the Veil in Ancient Greek Culture, in: L. Llewellyn-Jones (Hrsg.), Women’s Dress in the Ancient Greek World (London 2002) 73–94.
- N. Kaltsas, Sculpture in the National Museum, Athens (Los Angeles 2002) 99 Nr. 175.
- L. Llewellyn-Jones, Aphrodite’s Tortoise. The Veiled Woman of Ancient Greece (Swansea 2003).