Von Treue und Trauer – die sogenannte Trauernde Penelope

Ash Nachbagauer

Sitzstatue einer Frau, oder sogenannte Trauernde Penelope
Rom, Vatikanische Museen, Museo Pio Clementino, Galleria delle Statue, Inv. 754
frühkaiserzeitliche Kopie eines griechischen Originals um 470/60 v. Chr.
Abguss: Wien, Archäologische Sammlung, Inv. 201; Erwerbung 1887

 

20 Jahre auf dem Meer

Die homerische „Odyssee“ beschreibt die abenteuerliche Heimreise des griechischen Helden Odysseus nach dem Trojanischen Krieg. Die Erzählung beginnt zehn Jahre nach dem Ende des Krieges und schildert die Herausforderungen und Prüfungen, die Odysseus überwinden muss, um nach Ithaka zurückzukehren, wo seine Frau Penelope und sein Sohn Telemachos auf ihn warten. Zwanzig Jahre lang bleibt Penelope trotz der Ungewissheit, ob Odysseus noch lebt, und trotz vieler Verehrer ihrem abwesenden Mann treu. Dabei greift sie auf mehrere Tricks zurück, um die Freier hinzuhalten. Das Ende der Geschichte beschreibt Odysseus’ Rückkehr und den berühmten „Freiermord“. Trotzdem ist Penelope anfangs misstrauisch gegenüber dem Fremden, der behauptet, Odysseus zu sein. Sie stellt ihn auf die Probe, indem sie ihn über das Geheimnis ihres gemeinsamen Ehebetts fragt, das nur er kennen kann. Dies zeigt nicht nur ihre Vorsicht, sondern auch die tiefe Verbundenheit und das Vertrauen, das zwischen Penelope und Odysseus besteht.

Schon in der Antike ist Penelope als gute Weberin, vorbildliche Hausherrin und treue Ehefrau bekannt. Sie verkörpert ein Frauenideal, welches dem Haushalt und dem Ehemann Vorrang gibt. In blindem Vertrauen wartet sie auf ihren Ehemann. In vielen Abbildungen wird Penelope trauernd, wartend oder sehnend dargestellt, so auch im Fall der Statue der Trauernden Penelope, die in mehreren Kopien überliefert ist. Penelope sitzt mit überkreuzten Beinen, unbewegt und mit dem Oberkörper zum Betrachter gedreht. Sie trägt ein langes, schweres Gewand, das sie vornehm und zurückhaltend wirken lässt. Dazu trägt sie bei mehreren Kopien einen Haarschleier und ihre Haare liegen in Locken auf ihrer Stirn und ihren Schultern. Ihre Gesichtszüge entsprechen dem sogenannten Strengen Stil. Ihre Hand nähert sich der Stirn oder berührt diese mit den Fingern. Sie hielt vermutlich eine Spindel und saß auf einem Wollkorb – sowohl ein Zeichen für ihre Webkunst und ihre Rolle im Haushalt als auch ein Verweis auf einen von Penelopes Tricks. So versprach sie, einen Freier zu heiraten, wenn sie das Totentuch für ihren Schwiegervater Laertes fertiggestellt habe. Sie webte fleißig jeden Tag und trennte jede Nacht alles wieder auf, um so der versprochenen Heirat zu entgehen.

Penelopes leicht eingesunkene, verschlossene Haltung wirkt, als würde sie die Last großer Trauer oder Sorge tragen. Durch die Arme, die auf dem Hocker und an ihrer Stirn liegen, ergibt sich eine abgeschlossene Körperhaltung, es entsteht eine von der Umwelt getrennte Einheit. Das könnte ein Hinweis auf Penelopes Einsamkeit und Trauer sein oder auf den Wunsch verweisen, sich aus der Welt herauszunehmen.

Trauer im Bild – ein kunsthistorischer Ausblick

Die Körperhaltung der Penelope findet Assoziationen in neueren Beispielen der Kunstgeschichte, darunter etwa in Vincent van Goghs „Alter Mann in Trauer“: Ein älterer Herr sitzt mit hängenden Schultern, die Ellenbogen auf seinen Beinen und das Gesicht in den Händen vergraben auf einem Stuhl. Wie bei Penelope bildet er eine abgeschlossene Einheit, er hat keinen Bezug zu den anderen Elementen des Gemäldes. Der größte Unterschied besteht allerdings darin, dass der Mann voller Verzweiflung ist, sein Gesicht in seine Hände presst, während Penelope noch genug Hoffnung und Sehnsucht hat, um ihren Blick zu heben.

Penelope wirkt so traurig und sehnsüchtig, dass sie sich isolieren will. Nur ihr Blick entfernt sich von ihr selbst. Er blickt wartend und fast hoffnungsvoll in die Ferne, in der sich irgendwo ihr Ehemann befindet. Ein spannender Vergleich ist mit dem Gemälde „Odysseus (Sehnsucht nach der Heimat)“ möglich. In dem 1924 entstandenen Gemälde stellt Alexander Rothaug Odysseus auf einem Stein sitzend umgeben vom Meer dar. Odysseus ist nackt, stützt sich mit einem Arm auf sein Knie und legt seinen Kopf auf diesen. Der andere Arm greift an seinen Knöchel. Auch hier ist die Trauer in der Körperhaltung festgehalten: ein gebeugter Rücken, angestrengte Muskeln und der vergrabene Kopf bringen die Emotionen deutlich zum Ausdruck. Aber wie van Goghs „alter Mann“ wirkt auch Odysseus eher verzweifelt als sehnsüchtig vor Trauer, wie Penelope dies tut.

Penelope von Persepolis

Die uns überlieferten römischen Statuen der Trauernden Penelope kopieren eine griechische Originalstatue, sehr wahrscheinlich gab es aber zwei einander gleichende Statuen. Eine von diesen beiden durchlief eine bewegte Geschichte: Die fragmentarische Statue, heute als sogenannte Penelope aus Persepolis bekannt, wurde 1936 in Persepolis im heutigen Iran gefunden. Persepolis war eine der Residenzstädte des Achämenidenreiches, des ersten persischen Großreiches. Die Stadt und der Gebäudekomplex, in dem die Statue gefunden wurde, wurde 331 v. Chr. von Alexander dem Großen zerstört. Die Statue lässt sich auf etwa 450 v. Chr. datieren. Der Marmor, aus dem die Statue angefertigt wurde, stammt von der Insel Thasos. Außerdem muss es eine zweite Statue gegeben haben, die in Griechenland verblieben ist, da römische Kopien angefertigt wurden, nachdem die Statue in Persepolis bereits verschüttet worden war. Auf Grundlage der überlieferten Kopien lassen sich mehrere Rekonstruktionen der ursprünglichen Originalstatue erstellen.

Warum fand sich diese griechische Statue in einem persischen Verwaltungszentrum, zumal etwa 30 Jahre nach den Perserkriegen? Zuerst wurde angenommen, dass die Perser die Statue als Kriegsbeute raubten. Allerdings sprechen zwei Gründe dagegen: Die Statue wurde nach den Kriegszügen der Perser geschaffen und die Gegend, aus welcher der Marmor der Statue stammt (Thasos oder das gegenüberliegende Festland), wurde nie von den Persern geplündert. In neueren Interpretationen wird die Statue daher eher als Geschenk an den König Persiens (Xerxes I.) bezeichnet. Nun stellt sich aber die Frage, wer die Statue geschenkt hat, etwa Thasos oder andere nahegelegene Stadtstaaten. Mit diesem Geschenk könnten die Schenkenden Unterstützung bei den Persern gesucht haben, um sich vor der Ausbeutung und Gewalt des Attischen Seebundes zu schützen. Der Transfer der Statue zu den Persern könnte demnach also durch mit Emotionen besetzte zeitgenössische Ereignisse geleitet worden sein.

Eine andere Möglichkeit ergibt sich, wenn nach dem Verhältnis der beiden griechischen Originalstatuen aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. gefragt wird. Wurden die Statuen gleichzeitig hergestellt oder nacheinander? Von wem bzw. welcher Werkstatt wurden die Statuen produziert? Eine interessante Idee ist die der Doppelstatue: So wurden in der Antike manchmal in den Regionen beider Vertragspartner aufeinander bezogene oder gleiche Kunstwerke aufgestellt. Dabei handelte es sich allerdings zumeist um Stelen, die den jeweiligen schriftlichen Vertrag festhielten, und nicht um Statuen. Ob das Bildwerk ein Geschenk darstellte oder ein Friedensangebot bzw. einen Vertrag besiegelte, bleibt weiterhin offen.

Penelope ist ein Sinnbild für Frauen, die auf ihre in den Krieg gezogenen Männer warten, voller Ungewissheit, ob diese noch leben. Das war in der antiken griechischen Welt, in der kriegerische Konflikte zur Lebenswelt der Menschen gehörten, ein wichtiges Thema. War das Geschenk also eventuell als Gedenken an Verluste des Krieges gedacht? Leider verfügen wir über keine Quellen, die uns mehr über die Rezeption der Statue verraten würden.

Weiterführende Literatur

  • T. Hölscher, Pernelope für Persepolis. Oder: Wie man einen Krieg gegen den Erzfeind beendet, JdI 126, 2011, 33–76.
  • I. Kader u.a. (Hrsg.), Penelope rekonstruiert. Geschichte und Deutung einer Frauenfigur. Ausstellungskatalog München (München 2006).
  • C. M. Olmstead, A Greek Lady from Persepolis, AJA 54, 1, 10–18.
  • O. Palagia, The Marble of the Penelope from Persepolis and its Historical Implications, in: S.D. Resa Darbandi ‒ A. Zournatzi (Hrsg.), Ancient Greece and Ancient Iran. Cross-Cultural Encounters. First
  • International Conference, Athens, 11–13 November 2006 (Athen 2008) 223-237.
  • R. Shahrokh u.a. (Hrsg.), Una statua per la pace. Le sculture di Penelope. Da Persepoli a Roma. A statue for peace. The Penelope sculptures. From Persepoli to Rome. Ausstellungskatalog Teheran (Teheran 2015).