Heiliger Ernst? Emotionen im Asklepioskult

Marte Zepernick

Foto: IKA, Kristina Klein

Votivrelief für Asklepios
Athen, Nationalmuseum, Inv. 1402
erste Hälfte 4. Jahrhundert v. Chr.
Abguss: Wien, Archäologische Sammlung, Inv. 1375; Übernahme 1904 vom Österreichischen Museum für Kunst und Industrie

Die antike Lebenswelt war von religiösen Ereignissen durchzogen. Wie entfaltete sich in diesem Kontext Emotionalität? Schauen wir uns ein Relief an, das in klassischer Zeit vermutlich in Athen gefertigt wurde. Dicht gedrängt stehen zwei Figurengruppen einander gegenüber: In der Mitte stützt sich ein bärtiger Mann auf einen von einer Schlange umwundenen Stab. Es ist der griechische Heilgott Asklepios, der gemeinsam mit seiner Familie auftritt. Hinter ihm ist von Hygieia, der personifizierten Gesundheit, nur der Kopf zu erkennen. Es folgen zwei Männer und drei Frauen, die Söhne und Töchter des Gottes. Deutlich sind sie durch ihre Körpergröße von der Menschengruppe unterscheidbar, die ihnen auf der linken Seite des Reliefs entgegenblickt. Unmittelbar vor Asklepios stehen zwei bärtige Männer und eine verschleierte Frau. Am Rand des Reliefs schließt sich vermutlich eine Dienerin an, die ein Kästchen hält. Nochmals kleiner dargestellt reihen sich im Vordergrund zwei Kinder ein. Im Hintergrund trägt eine weitere Dienerin einen großen, mit einem Tuch abgedeckten Korb. Gezeigt wird eine Familie, die sich bittend an Asklepios und seine Begleiter*innen wendet. Zwischen dem Gott und seinem Stab ist ein Schwein zu sehen, das als Opfertier dient.

Wir befinden uns also inmitten von Kulthandlungen für Asklepios und seine Familie. Allerdings verzieht niemand eine Miene. Leger auf Stand- und Spielbein stehend blicken die Unsterblichen starr den Menschen entgegen, die emotionslos die Begegnung zu erwidern scheinen. Nur dass die Männer und Frauen einander an der Schulter fassen, haucht der Szenerie einen Hinweis auf soziale und emotionale Zusammengehörigkeit ein. Waren religiöse Handlungen für die Götter derart ernste Angelegenheiten?

Wie die Menschen Asklepios und gegebenenfalls seinen Begleitern begegnen, wird auf verschiedenen Reliefs aus dem klassischen Athen gezeigt. Häufig sehen wir eine Familie, die den Göttern Gaben mitbringt (vergleiche etwa aus dem Athener Nationalmuseum Inv. 1345; Inv. 1333). Expressive Mimik sucht man hier vergebens; lediglich Berührungsgesten der Familienmitglieder untereinander machen die Vertrautheit der Personen greifbar (Louvre Inv. MA 755). Auch die schriftliche Überlieferung gibt kaum explizit Einblicke, welche persönliche Erlebniswelten während der Opferzeremonien eine Rolle gespielt haben mögen. Der berühmte Komödiendichter Aristophanes (5./4. Jahrhundert v. Chr.) lässt zwar im „Plutos“ seine Hauptfiguren zentrale Handlungen des Asklepioskults durchleben. Allerdings bewegen sich Schlussfolgerungen über Emotionen, die sich aus der übertrieben lebensfrohen Welt der Komödie speisen, hier auf dünnem Eis. Weiter kommen wir mit der Überlegung, wozu der Kult diente und warum die Reliefs angefertigt wurden.

Foto: IKA, Kristina Klein

Emotionale Grenzerfahrung? Zu Besuch im Asklepiosheiligtum

Furcht, Angst und Hoffnung schwangen mit, wenn sich die Griechen an ihre Götter wandten. Die Unsterblichen galten als unberechenbare Mächte, die positiv oder negativ in die menschliche Lebenswelt eingreifen konnten. Asklepios war als Spezialist für Heilkunst besonders bei gesundheitlichen Problemen ein beliebter Ansprechpartner. Eindrucksvolles Zeugnis davon sind die „Iamata“ aus dem Asklepiosheiligtum von Epidauros (IG IV² 1,121–124). Diese Zusammenstellung mehrerer kurzer Berichte entstand in der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. In den meisten Fällen geht es um Kranke, die sich vom Gott Heilung erhofften. Die Krankheit wird zwar genannt, im Vordergrund stehen jedoch die erfolgreiche Heilung und der Dank an den Gott. Das Personal des Heiligtums dürfte die Texte, die gut sichtbar im Heiligtum aufgestellt die Heilung vor Ort anpriesen, gezielt zusammengestellt haben. Dennoch lässt sich der große Leidensdruck erahnen, der die Kranken dazu motivierte, göttliche Hilfe zu erbitten.

Egal, ob ein Geschwür am Zeh oder Würmerbefall ‒ der Besuch im Heiligtum konnte von konkretem Handlungsbedarf geleitet sein und knüpfte sich somit an die Hoffnung, vom Leid erlöst zu werden. Auch in den Iamata kamen mitunter Familienmitglieder mit ins Heiligtum. Insofern mögen Angst und Sorge um die Angehörigen ständige Begleiter gewesen sein.

Zentrales Moment der Behandlung war, dass der Gott dem Kranken erschien und ihn im Traum heilte. Entsprechend wurde in einer Halle des Heiligtums gezielt ein solches Traumerlebnis gesucht, aus dem der Kranke idealerweise gesund erwachte. Dass eine göttliche Erscheinung (Epiphanie) in diesem Kontext von jedem erhofft werden konnte, ist eine Besonderheit des Asklepioskults. Normalerweise rechneten die Griechen eher nicht damit, dass sich ihnen ihre Götter persönlich zeigten, und wenn dies geschah, lieferte es Stoff für Erzählungen. Dabei avancierte die Begegnung mit dem Gott zumeist zum emotionalen Ausnahmeerlebnis bis hin zur psychischen Grenzerfahrung für die Sterblichen. Die kurzen Berichte der Iamata geben leider wenig preis darüber, wie das Erscheinen des Gottes im Traum empfunden wurde. Seine Patientinnen und Patienten neigen in den Traumepisoden zu Schüchternheit und zur Beteuerung, sich nach erfolgreicher Heilung dankbar zu zeigen.

Die Begegnung mit dem Gott wurde gewissermaßen auch ins Relief gebannt. Im Gegensatz zu Szenen mit anderen Göttern treten Asklepios und seine Begleiter verhältnismäßig nahbar auf: Menschen und Unsterbliche blicken einander direkt an und beide Gruppen treffen unmittelbar aufeinander. Dennoch wirken die Menschen in der Darstellung unbeeindruckt von der besonderen Begegnung. Gezeigt werden keine pathetisch Leidende oder von göttlicher Präsenz Überwältigte. Die Bildsprache illustriert also weder kultische Handlungen, noch wurde Wert darauf gelegt, emotionale Erfahrungen zu visualisieren. Vielmehr zeigt das Zusammentreffen von Göttern und Menschen ihr Verhältnis zueinander auf. Das mitgebrachte Opfertier eröffnet einen Kommunikationsweg zu den Göttern, aber auch das Relief selbst als Weihgeschenk.

Mit-Leiden und Mit-Fühlen: Emotion und Gemeinschaft

Weihreliefs waren Geschenke für die Götter. Eine erfolgreiche Heilung war ein Anlass, um zum Dank ein solches Relief zu weihen. Dem Gott gebührlich zu danken, ist auch eine zentrale Botschaft der Iamata, die Dankesgeschenke wie Reliefs erwähnen. Natürlich waren die im Heiligtum aufgestellten Geschenke zugleich wirksame Werbung für die vor Ort erfahrbare Hilfe. Mitunter mögen sehr persönliche Beweggründe für die Auswahl einer bestimmten Gabe ausschlaggebend gewesen sein. Im Falle der Reliefs sah man gleich: Der Stifter oder die Stifterin gehörte zu denjenigen, denen der Gott geholfen hatte. Mit der Begegnung mit dem Gott wurde hier in Stein dauerhaft eine Erinnerung an das Erlebte verewigt. Diese konnte eine ganze Palette an Erfahrungen beinhalten – vom Leiden durch Krankheit, Hoffnung auf Hilfe und Angst vorm Scheitern des Anliegens, Furcht vor der göttlichen Erscheinung bis hin zum positiven Erfolgserlebnis und Dankbarkeit. Neben individuellen Erlebnissen der Genesenen spielt hier erneut die Wirkung auf jene, die gegebenenfalls selbst noch auf Heilung hofften, eine Rolle.

Zudem waren viele Hilfe Suchenden eben nicht allein unterwegs: Auf dem Weihrelief finden die kultischen Handlungen im Familienkreis statt. Die Berührungsgesten können hier emotionale Nähe und Unterstützung andeuten, wenngleich sie auch schlichtweg dazu beitragen, dass Menschen- und Götterfamilie auf dem Relief als verschiedene Gruppen wahrgenommen werden. Der familiäre Kreis wird in der griechischen Kultur durchaus als von Zuneigung geprägt charakterisiert oder zumindest nach außen hin so präsentiert. Krankheiten waren für das soziale Umfeld der Betroffenen überaus relevant. So kann emotionales Erleben − unabhängig davon, wem der Gott bestenfalls im Traum erschien − personenübergreifend während des gesamten Kultgeschehens präsent gewesen sein. Stellen wir uns Handlungen wie Opfern oder das Aufstellen eines Weihgeschenks im laufenden Heiligtumsbetrieb vor, waren weitere Personenkreise mindestens passiv als Beobachtende involviert. Emotionalität konnte im Rahmen konkreter Situationen übertragen werden und damit zusätzliche Resonanz finden. Das Erzählen von der Begegnung mit dem Gott im Traum, das Betrachten von Darstellungen beispielsweise auf Reliefs oder das Lesen der Berichte über erfolgreiche Heilung dürften entsprechende Emotionalität auch bei weiteren Besuchenden evoziert haben. Wenn sich Kranke über ihre Leiden austauschten oder Freude über die Heilung eines Weggefährten Besuchende einte, entstanden in Gruppen verschiedener Konstellationen Eigendynamiken an Emotionalität, die wiederum andere beeinflussen konnten.

Für den Asklepioskult des 4. Jahrhunderts v. Chr. dürfen wir also davon ausgehen, dass Emotionen im Kult eine Rolle spielten. Inwieweit gezielt Emotionalität demonstrativ gezeigt oder verborgen wurde, bleibt schwer fassbar. In der Darstellung auf Weihreliefs haben Emotionen keinen Platz. Das verwundert im Kontext der zeitgenössischen Bildsprache nicht, die Emotionalität nur in bestimmten Konstellationen ins Bild setzt. Die bürgerliche Familie und der fast selbst wie ein Bürger auftretende Heilgott mit seinen Begleitern werden eben nicht als emotionsgeleitet gezeigt, sondern stehen wie selbstverständlich einander gegenüber. Vielmehr zielen die Darstellung und das ganze Relief als Geschenk für die Götter darauf, zu demonstrieren, dass hier ein Anliegen mit göttlichem Wohlwollen beantwortet wurde. Es stellt zur Schau, wie man den Göttern erfolgreich begegnen kann: im vertraut geeinten Familienkreis und mit Geschenken. Die emotionale Erfahrungswelt bei der persönlichen Erscheinung der Götterfamilie bleibt der Vorstellungskraft der Betrachtenden überlassen.

Weiterführende Literatur

  • A. Chaniotis, Emotional Community through Ritual. Initiates, Citizens, Pilgrims as Emotional Communities in the Greek World, in: A. Chaniotis (Hrsg.), Ritual Dynamics in the Ancient Mediterranean. Agency, Emotion, Gender, Representation, HABES 49 (Stuttgart 2011) 263−290.

  • A. Chaniotis, Emotions in Sacred Spaces. Hope, Fear, and Gratitude and the Foundation of Piety, in: A. Chaniotis ‒ N. Kaltsas ‒ I. Mylonopulos (Hrsg.), A World of Emotions. Ancient Greece, 700 BC‒200 AD (New York 2017) 192−203.

  • U. Hausmann, Kunst und Heiltum. Untersuchungen zu den griechischen Asklepiosreliefs (Potsdam 1948). 
N. Kaltsas, Sculpture in the National Archeological Museum, Athens (Los Angeles 2002).

  • A. Klöckner, Votive als Gegenstände des Rituals – Votive als Bilder von Ritualen. Das Beispiel der griechischen Weihreliefs, in: J. Mylonopoulos – H. Roeder (Hrsg.), Archäologie und Ritual. Auf der Suche nach der rituellen Handlung in den antiken Kulturen Ägyptens und Griechenlands (Wien 2006) 139−152.
  • A. Klöckner, Getting in Contact. Concepts of Human‒Divine Encounter in Classical Greek Art, in: J.B. Bremmer ‒ A. Erskine (Hrsg.), The Gods of Ancient Greece. Identities and Transformations (Edinburgh 2010) 106‒125.