Verbundenheit über den Tod hinaus: Das Grabrelief des Thraseas und der Euandria

Christa Gasz

Foto: IKA, Kristina Klein

Grabrelief des Thraseas und der Euandria aus Athen
Berlin, Staatliche Museen, Antikensammlung, Inv. Sk 738, 1884
Mitte 4. Jahrhundert v. Chr.
Abguss: Wien, Archäologische Sammlung, Inv. 305; Erwerbung 1887

Die attischen Grabreliefs des späten 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. bieten einen faszinierenden Einblick in die antike Gesellschaft und ihre Wertvorstellungen. Sowohl Bürger als auch minder- und unterprivilegierte Bewohner*innen Attikas nutzten sie, um über den Tod hinaus an sich erinnern zu lassen. Wie wichtig der Aspekt der Erinnerung für die griechische Gesellschaft nicht nur dieser Zeit war, zeigt, dass diese Reliefs entlang von Gräberstraßen aufgestellt waren, damit sie von möglichst vielen Menschen gesehen wurden. Die Grabbezirke befanden sich stets außerhalb der Städte, in Athen etwa nahe des Töpferviertels Kerameikos, an einer Straße, die aus der Stadt führte. Die Grabbezirke der Athener Familien waren beiderseits der Straße auf einem hohen aufgemauerten Sockel aufgestellt, auf dem im Laufe der Zeit mehrere Grabdenkmäler hinzugefügt wurden.

Die Trauer um die Toten war auch im antiken Griechenland nicht nur eine Frage von Repräsentation. Was wollte man noch mit den Reliefs zeigen? Welche Gefühle werden in einem solchen Bildwerk vermittelt? Und was sagen diese Bildwerke über die Gesellschaft aus, in der sie entstanden sind?

Oikos im naiskos: Vereint unter einem Dach

Der 160 x 90 cm große Rahmen, in den eine Szene mit den drei Figuren eingebettet ist, erinnert an ein Haus. Dies ist typisch für eine bestimmte Art von Grabstele, den Naiskos. Etymologisch handelt es sich bei dem Begriff um ein Diminutiv vom altgriechischen Wort naos (Tempel), da die Stele mit ihrem Aufbau an einen kanonisch griechischen Tempel erinnert. Den oberen Abschluss bildet das Giebeldreieck (Tympanon), das, wie die links und rechts davon stehenden Pfeiler, ebenfalls an die Architektur eines Tempels denken lässt. Am Balken, der darunter liegt und die beiden Pfeiler verbindet (Architrav), ist eine Inschrift in altgriechischen Großbuchstaben zu erkennen, die angibt, dass es sich bei den Figuren im Vordergrund um Thraseas, aus der Gemeinde Perithoidai, und Euandria handelt. Durch seinen Namen wird klar, dass er den Status eines attischen Bürgers besitzt. Der Name der Frau bedeutet „Tapferkeit“ oder „Männlichkeit“ und verweist so auf Ideale der in vielen Bereichen von Männern dominierten Gesellschaft des klassischen Athens. Dass uns die Inschrift den Namen der Dargestellten verrät, ist typisch für die griechische Grabskulptur. Da die Gesichter der Dargestellten idealtypisch gestaltet sind und keine individuellen Gesichtszüge zeigen, war die Inschrift für die Zeitgenossen der Schlüssel für die Identifizierung der dargestellten Personen.

Der Mann und die Frau im Vordergrund sind aus dem Hintergrund herausgearbeitet. Der links stehende Thraseas greift mit seiner linken Hand an seinen Mantel (Himation) und schaut der rechts sitzenden Frau in die Augen, während er mit seiner rechten Hand ihre rechte Hand hält. Da sie sich durch ihre Sitzposition unterhalb von ihm befindet, führt sein Blick nach unten, ihrer nach oben. Es fällt auf, dass beide Figuren den architektonischen Rahmen sprengen; Thraseas überragt Tympanon und Giebel teilweise, der Fuß der Euandria geht unten über den definierten Bildraum hinaus. Sie sitzt auf einem gepolsterten Diphros (Hocker), dessen hinterer Fuß abgebrochen ist. Beide Körper sind schlank und idealisiert gestaltet. Durch die gepflegten Frisuren und den einst in Metall angesetzten Ohrstecker der Frau wird nicht nur ihr sozial gehobener Status ersichtlich, sondern auch die Darstellungskonvention, Frauen in Grabreliefs als schön abzubilden.

Im Hintergrund zwischen ihnen befindet sich eine Figur, die stärker dem Hintergrund verhaftet und flacher ausgearbeitet ist. Es handelt sich, wie man an den kurz geschnittenen Haaren erkennen kann, um eine Sklavin. Sie führt ihre rechte Hand an ihr Gesicht. Sklaven waren keine Bürger. Sie gehörten aber zum Haushalt (oikos) und konnten der Trauergemeinschaft angehören.

Gesten des Abschieds

Die beiden Figuren im Vordergrund sind durch die Geste des Handschlags (dexíosis) miteinander verbunden. Sie reichen einander dabei die rechte Hand, ihre Blicke tauchen ineinander. Was bedeutet nun diese Geste? Inwiefern bringt sie Trauer zum Ausdruck? Wenn wir diese Fragen stellen, müssen wir beachten, dass die Definition und Konzeptualisierung von Emotionen historisch bedingt und kulturell unterschiedlich sind.

Betrachten wir die Stele von Thraseas und Euandria, möchten wir aus heutiger Sicht vielleicht glauben, dass die beiden sich mittels Handschlags voneinander verabschieden, da der Tod sie trennt. Doch die Geste des Handreichens hatte weniger die Funktion der Begrüßung und des Abschieds als vielmehr andere Bedeutungen. Sie kam im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. in verschiedenen Bildzusammenhängen vor und man findet sie auch in der Vasenmalerei. Sie diente als Zeichen der Zuneigung und Liebe, zeigt aber auch etwa auf sogenannten Urkundenreliefs eine bindende wechselseitige Verpflichtung durch einen gelungenen Vertragsabschluss an. Der Händedruck auf Grabreliefs symbolisiert Zusammengehörigkeit und Verbundenheit. Er vereint die Angehörigen also und trennt sie nicht, wie es bei einer Verabschiedung der Fall wäre, und er ist generell nicht situativ als ein Akt der Begrüßung oder Verabschiedung zu verstehen.

Diese Verbundenheit wird durch die Verbindung der Blicke der Dargestellten intensiviert. In der Darstellung zweier Figuren hat der geneigte Kopf, wie hier bei Thraseas, eine kommunikative Funktion. Die Verschränkung der Blicke drückt die besondere Konzentration der Figuren aufeinander aus und verstärkt die Botschaft, die das Motiv des Händedrucks veranschaulicht.Eine weitere Geste, die Emotionen zum Ausdruck bringt, zeigt die Sklavin im Hintergrund: Als Anzeichen großer Trauer legt sie ihr Gesicht in die Hand. Ihre Trauer verstärkt die emotionale Ausdruckskraft der ganzen Szene.

Bilder des Trostes

Die attischen Grabreliefs sind tief in den Totenkult und zugleich in die Werte der Polisgesellschaft eingebettet. Während manche Forschenden die religiöse Funktion der Grabmarkierungen als weniger wichtig einschätzen als die Aufgabe sozialer Repräsentation in bestimmten Rollen attischer Bürgerfamilien, betonen andere die Bedeutung dieser Denkmäler als Zeugnisse familiären Zusammenhalts und als Ausdrucksmittel tiefer Trauer. In dieser Hinsicht ist das Grabrelief und Thraseas und Euandria nicht einzigartig. Es kann in die Motivgruppe des sogenannten Familienbildes eingeordnet werden. Die Kombination von mindestens einer weiblichen und einer männlichen Figur macht dieses ebenso aus wie die Tatsache, dass die Frau nie arbeitend dargestellt wird, sondern stattdessen oft dem Mann, manchmal einer Frau, die Hand reicht. In diesem Aspekt zeigen sich nun Emotionen: Die Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten, die so stark ist, dass sie den Tod überdauert, ist in dieser Bildgattung ein wesentliches Element des Trostes.

Weiterführende Literatur

  • J. Bergemann, Demos und Thanatos. Untersuchungen zum Wertsystem der Polis im Spiegel der attischen Grabreliefs des 4. Jahrhunderts v. Chr. und zur Funktion der gleichzeitigen Grabbauten (München 1997).
  • M. Kunze, Grabrelief des Thraseas und der Euandria, in: Staatliche Museen zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz. Antikensammlung (Hrsg.), Die Antikensammlung im Pergamonmuseum und in Charlottenburg (Mainz am Rhein 1992) 114–115.
  • K. Margariti, Gesturing Emotions. Mourning and Affection on Classical Attic Funerary Reliefs, BABesch 94, 2019, 65–86.
  • M. Meyer, Gesten der Zusammengehörigkeit und Zuwendung. Zum Sinngehalt attischer Grabreliefs in klassischer Zeit, Thetis 5, 1999, 115–132.
  • G. Neumann, Gesten und Gebärden in der griechischen Kunst (Berlin 1965).
  • B. Schmaltz, Griechische Grabreliefs, Erträge der Forschung 172 (Darmstadt 1983).
  • A. Scholl, Geschlossene Gesellschaft. Die Bewohner des klassischen Athen in den Bildern und Inschriften ihrer Grabdenkmäler, in: Antikensammlung Berlin. Staatliche Museen. Preußischer Kulturbesitz (Hrsg.), Die griechische Klassik. Idee oder Wirklichkeit. Ausstellungskatalog Bonn (Berlin 2002) 179–190.
  • N. Sojc, Trauer auf attischen Grabreliefs. Frauendarstellungen zwischen Ideal und Wirklichkeit (Berlin 2005).