Emotion ‒ ein „extrem vielschichtiges Erlebnis“: Ein Blick in die Psychobiologie

Marte Zepernick im Gespräch mit Claus Lamm
 
Die Kulturwissenschaften haben eigene Methoden entwickelt, um sich den sozialen und kulturellen Dimensionen von Emotionen anzunähern. Nicht wegzudenken ist dabei aber, dass es im Kern um neurobiologische Prozesse geht. Im Interview erklärt Claus Lamm, Professor für Biologische Psychologie und Soziale Neurowissenschaften an der Universität Wien, wie wir Emotionen neurobiologisch verstehen können.

Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, uns in die neurobiologische Welt der Emotionen einzuführen. Fangen wir gleich mit der zentralen Frage an: Was sind Emotionen und welche Funktion haben sie?

Was Emotionen sind, ist eine einfache Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt. Es gibt dafür über 100 Definitionen in der Psychologie. Mein Standpunkt ist daran orientiert, mit dem Konzept sinnvoll theoretisch arbeiten zu können, aber auch praktisch. Emotionen haben sich ‒ das ist zumindest eine gängige Sichtweise ‒ mit einer ganz spezifischen Funktion entwickelt, nämlich Menschen zum Handeln zu animieren. Sie haben eine klare verhaltenssteuernde Funktion. Emotionen sollen eigentlich dazu motivieren, etwas zu tun. Wenn ich zum Beispiel traurig bin, dann ziehe ich mich zurück, wenn ich fröhlich bin, dann gehe ich auf Menschen zu, wenn mich etwas anekelt, dann wende ich mich davon ab. 
Zusätzlich muss man Emotionen aber abgrenzen von anderen Komponenten, die ebenfalls verhaltenssteuernd sein können ‒ wie zum Beispiel Kognition und Denken. Bei Emotionen kommen zwei Dinge hinzu, die sich auf jeden Fall unterscheiden lassen: Eine ganz starke körperliche Komponente, das heißt Emotionen haben immer etwas mit einer körperlichen Reaktion zu tun. Es kann sein, dass in meinem Körper etwas passiert, was mir vielleicht sogar den Input dazu gibt, diese Emotion überhaupt zu empfinden ‒ also zum Beispiel ein ungutes Gefühl in der Magengegend, ein sich weitender Brustkorb, wenn man auf etwas stolz ist, wenn man etwas erreicht hat oder wenn man positiv gestimmt ist etc. Aber es gibt auch eine starke Ausdruckskomponente, nämlich über das Gesicht. Das ist auch etwas, was den Menschen abgrenzt von anderen Tieren ‒ dass wir nicht nur in der Lage sind, Emotionen zu empfinden, sondern sie auch extrem nuanciert anderen zu kommunizieren. 

Zusätzlich zur körperlichen Komponente gibt es noch eine subjektive Komponente; das ist die, die am wenigsten gut greifbar ist: Emotionen fühlen sich auch immer irgendwie an. Im Alltagsgebrauch verwechselt man das oft – das Gefühl ist das gleiche wie die Emotion – aber in den meisten Emotionsmodellen ist das Gefühl ein wichtiger Input zur Emotion, allerdings nicht damit gleichzusetzen. Wenn ich zum Beispiel Angst als Emotion empfinde, dann hat das eine spezifische Fühlqualität, wobei aber das Fühlen nicht unmittelbar immer zur Emotion Angst führen muss. Wenn ich im Wienerwald spazieren gehe und es im Laub raschelt, dann habe ich zuerst die körperliche Antwort, die mir irgendwie anzeigt, ‚da könnte etwas potenziell Gefährliches sein‘. Und je nachdem, ob ich im Wienerwald unterwegs bin oder im Regenwald, führt das erste Gefühl ‚da ist irgendwas‘ dazu, dass ich mich orientiere ‒ im Wienerwald führt es dann wahrscheinlich zur Emotion Freude oder Entspannung, weil es zum Beispiel ein Vogel ist; im Regenwald glaubt man vielleicht, dass da eine Schlange ist, und dann hat man wirklich die Emotion Angst.

Das heißt, dieses Fühlen ist ein Vorläufer, ein erstes Signal. Was dann tatsächlich zur Emotion wird, das hängt von einer weiteren Komponente ab, nämlich der kognitiven Komponente. Das ist etwas, was im Alltagsgebrauch ebenso oft verwechselt wird – man ist entweder emotional oder rational und das wird oft gleichgesetzt mit ‚man denkt‘ oder ‚man fühlt‘. Aber das Denken und das Bewerten sind eigentlich ein essenzieller und integraler Bestandteil von Emotionen: Ohne Denken keine Emotion, denn das Denken ordnet ein, das Denken bewertet dieses Gefühl und die körperliche Reaktion und die Verhaltenstendenz und sagt: „Jetzt kannst und sollst du Angst haben, weil es wirklich eine Schlange ist“, oder: „Du musst dich nicht fürchten, das ist nur ein harmloser Vogel.“ Das heißt, Emotion ist ein extrem vielschichtiges Erlebnis.

Es ist interessant, dass das Denken für Emotionen so eine wichtige Rolle spielt.

Früher hat man angenommen, dass Emotionen Automatismen sind, beispielsweise wenn mich jemand ärgert und wütend macht, dann werde ich tatsächlich automatisch wütend. Davon ist man mittlerweile stark abgekommen. Emotionen sind keine Trigger-Erfahrung, bei der man auf einen Knopf drückt und dann ein fixiertes Programm abläuft, sondern es sind komplexe und damit auch gestaltbare Erfahrungen, wobei eben die kognitive Bewertung eine ganz starke Rolle spielt.

Einige Psycholog*innen gehen von Basisemotionen aus. Demnach gebe es eine geringe Anzahl von beispielsweise sieben Emotionen, die kulturübergreifend gleich seien und auf die andere Emotionen zurückgeführt werden könnten. Arbeiten Sie mit diesem Ansatz?

Die Basisemotionen sind evolutionär vielleicht interessant und kulturübergreifend. Die Emotionen, mit denen ich mich beschäftige – hauptsächlich soziale Emotionen, also Empathie, das heißt die Emotion als Antwort auf die Emotion von anderen –, sind wesentlich komplexer. Die Ansätze, die mir sinnvoll erscheinen, sind sogenannte konstruktivistische Ansätze. Demnach gibt es keine Basisemotionen, sondern es gibt sozusagen komplexe „Gefühlslandschaften“, die zusammengestückelt werden: Dazu gehören Aspekte wie Aktivierung (Arousal) und Kernaffekt (core affect) und in einer konkreten Situation kombinieren sich diese zu einer komplexen Erfahrung, die nicht auf eine Basisemotion reduziert werden sollte. Ich kann ja zum Beispiel auch zwei Emotionen gleichzeitig haben: Man kann sowohl glücklich als auch traurig zur selben Zeit sein.

Um Emotionen zu erfassen, sind Altertumswissenschaftler*innen beispielsweise auf antike Beschreibungen, die von Verhaltensweisen der Akteur*innen berichten, angewiesen. Allerdings beschränkt allein schon die sprachliche Formulierung individueller Beobachtungen die Möglichkeiten unserer Annäherung tausende Jahre später. Wie werden Emotionen in der Psychologie erfasst oder gemessen?

Meistens arbeitet man mit Selbst- oder Eigenbericht, das heißt, man fragt die Personen: Sie zeigen den Proband*innen zum Beispiel einen Gesichtsausdruck und dann können Sie auf unterschiedlichen Ebenen abfragen, zum Beispiel nach Angst oder Ekel; oder Sie fragen nicht nach diskreten Emotionskategorien, sondern nach Dimensionen, also wie erregt die Person ist und wie valent der Zustand ist (sehr negativ oder sehr positiv). Emotion ist eine subjektive Erfahrung und dadurch auch schwer quantifizierbar. Am Ende des Tages kommt man fast nicht umhin, die Proband*innen zu fragen, was sie glauben, was die Emotion der anderen Person ist ‒ was es auch so schwierig macht. Damit beschäftige ich mich auch in meiner Forschung: Haben Tiere Emotionen? Ich würde das mit ‚ja‘ unterschreiben, aber es ist relativ schwer quantifizierbar, weil man die Tiere eben nicht fragen kann. Ich kann den Hund nicht fragen, ob es ihm jetzt gut oder schlecht geht, sondern ich kann sagen, dass der Hund mit dem Schwanz wedelt, sehr aufgeregt ist, sich die Nackenhaare sträuben – also Angst, ein bisschen Aufregung vielleicht. Aber da gehe ich von der menschlichen Erfahrung aus und das macht es relativ schwierig, schlussendlich zu entscheiden, ob Tiere Emotionen wie wir Menschen haben – wahrscheinlich schon, denn wir kommen von den Tieren und es gibt keinen Grund, dass sie es nicht haben sollten. Aber was genau die Qualität ist, das ist nach wie vor eine Herausforderung.

Zurück zum Menschen: Das bedeutet, nur Mimik, Körperhaltung etc. zu beobachten, reicht nicht aus, um eine Emotion eindeutig einzuordnen?

Die Beobachtung sagt Ihnen theoretisch natürlich schon relativ viel: Wenn jemand vor ihnen sitzt und schluchzt und weint, betrübt dreinschaut und eine Körperhaltung einnimmt, die mit der Emotion Trauer kohärent ist, dann wird die Person auch tatsächlich traurig sein, aber spannender sind ja dann die Situationen, in denen es eben nicht so eindeutig ist, zum Beispiel weil etwas sozial erwünscht oder unerwünscht ist, und das muss natürlich mit dem, was tatsächlich in der Person vorgeht, nicht übereinstimmen.

Tatsächlich erlebte Emotionen antiker Akteur*innen können nur in wenigen Einzelfällen rekonstruiert werden. Deshalb interessiert Altertumswissenschaftler*innen besonders die Emotionalität von Gruppen in bestimmten Situationen, zum Beispiel während der Teilnahme an religiösen Veranstaltungen. Was lässt sich aus psychologischer Sicht über die ‚Übertragung‘ von Emotionen zwischen Personen beispielsweise bei Großereignissen sagen?

Ein interessantes Phänomen ist die emotionale Ansteckung. Es gibt die Tendenz, uns durch die Emotionen anderer in den gleichen Emotionszustand anstecken zu lassen ‒ also Ansteckung durchaus im Sinne eines Erregers, der sich überträgt vom einem zum anderen und überall das gleiche auslöst. Die große Diskussion ist aber: Wie genau ‚gleich‘ ist das? Wenn jemand beim Skirennen oder beim Fußball gewinnt, dann überträgt sich ein Teil dieser Freude wahrscheinlich von der Person auf mich, aber nicht alles. Ob es eine ausreichende kritische Masse entwickelt, um sich dann kollektiv weiter zu verbreiten, das ist Gegenstand von ganz intensiver Forschung im Moment, gerade mit sozialen Medien etc. Also was sind die Bedingungen, unter denen sich eine Emotion lauffeuerartig wirklich verbreitet? Was sind Bedingungen, unter denen Emotionen wieder verebben oder zumindest an Intensität verlieren? Dabei spielen evolutionär gewachsene Mechanismen eine Rolle, man denke nur zum Beispiel an die Warnrufe von diversen Primaten, Vögeln, Murmeltieren etc., die sich durch Warnrufe synchronisieren. Die Gruppe bekommt ein Signal von einem Sentinel (einem Wachtier) und die Emotion Angst oder die Emotion Gefahr führt dann wieder im Sinne der Verhaltenssteuerung dazu, dass alle in ihren Erdlöchern verschwinden; und das kann auch für positive, negative usw. Emotionen verwendet werden.

Welche weiteren Faktoren beeinflussen die ‚Ansteckung‘ von Emotionen?

Was auf jeden Fall eine Rolle spielt, ist, ob es Teil einer Ingroup- oder Outgroup-Emotion ist, also: Sind es Menschen, die mir nahestehen, die ich als Teil meines inneren Zirkels wahrnehme? Das kann die Familie sein, die Verwandtschaft, eine soziale Gruppe, die Nation oder Gesellschaft etc. Denn dementsprechend gibt es die Tendenz, sich eher mit der Ingroup zu identifizieren und dann auch die Emotionen eher weiterzutragen. Bei der Outgroup aber, insbesondere im kompetitiven Kontext (also etwa beim Fußballspiel), wenn sich der andere freut, führt es meistens bei mir zu Leid, weil ich gerade verloren habe ‒ wenn sich der andere ärgert, dann ist es für mich sozusagen ein positives Signal. Da sieht man auch, dass es kein Automatismus ist in dem Sinne, dass jede Emotion von jeder Person zur Spiegelung oder emotionalen Ansteckung führt, sondern auch das ist kognitiv teilweise mitgesteuert. Wenn ich in einem kompetitiven Kontext bin, lasse ich mich nicht anstecken oder zeige die Gegen-Emotion; wenn ich in einem kooperativen Kontext bin, dann lasse ich mich eher mitreißen und synchronisiere mich.

In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich besonders mit Empathie. Was verbirgt sich hinter dem Begriff und worauf fokussiert Ihre Forschung?

Empathie ist eine gespiegelte Emotion oder eine Emotion, die ich nachempfinde – es ist ganz wichtig für die Empathie, dass ich mir eigentlich immer dessen bewusst bin, dass das, was ich empfinde, nicht meine eigene Emotion ist, sondern meine Emotion in der Nachempfindung der Emotion der anderen Person. In realen Situationen entstehen viele Konflikte dadurch, dass man beginnt, die empathische Reaktion auf den anderen als eigene Emotion zu empfinden, also anderen beispielsweise unterstellt, sich so zu fühlen, wie man selbst sich in einer ähnlichen Situation fühlen würde. Das mag oft stimmen, aber eben nicht immer. Es ist daher wichtig, die Abgrenzung gut hinzubekommen, weil ich sonst die Emotion der anderen Person mit meiner eigenen verwechsele und dann im Endeffekt nur noch mich selbst schütze und nicht die andere Person, die es eigentlich braucht. Denken Sie nur an die Überflutung mit schrecklichen Meldungen aus Kriegsregionen, die wir gerade erleben. Wenn mich hier das Leid der gezeigten Personen so sehr bedrückt, dass ich diese Meldungen bewusst oder unbewusst ausblende, bin ich für das Leid der anderen eben nicht mehr so empfänglich. Vielleicht verständlich, aber: Wir haben die Chance, unsere Emotionen zu regulieren, und es ist in so einem Fall vielleicht sogar unsere moralische Pflicht, nicht unser eigenes Unwohl über das noch viel größere und vor allem reale Leid der anderen zu stellen.
Derzeit versuchen wir in der Forschungsgruppe immer noch zu verstehen, wie wir fühlen können, was andere fühlen, ob das überhaupt möglich ist und in welchem Ausmaß, und was uns dazu in die Lage versetzt und inwiefern es eine spezifisch menschliche Fähigkeit ist oder eine, die andere Tiere eben auch haben.

Vielen Dank für das Gespräch.

Claus Lamm ist seit 2010 Professor für Biologische Psychologie und Soziale Neurowissenschaften an der Universität Wien und leitet die Forschungsgruppe SCAN-Unit (Social, Cognitive and Affective Neuroscience). Seine Forschungsschwerpunkte sind Empathie und prosoziales Verhalten.