Fühlen wie in der Antike – Perspektiven der historischen Emotionsforschung
Matthias Hoernes im Gespräch mit Viktoria Räuchle
Vielen Dank, dass Du Dir Zeit nimmst für ein Gespräch über Emotionen und die altertumswissenschaftliche Emotionsforschung. Wissenschaftliche Interessen und Fragestellungen entwickeln sich selten in einem luftleeren Raum: Worauf führst Du das boomende Interesse an Emotionen zurück?
Stimmt, in den Altertumswissenschaften ist das Thema Emotionen seit einigen Jahren virulent, und das hat in Teilen sicher auch mit der zunehmenden Emotionalisierung im politischen Diskurs zu tun, nicht nur, aber vor allem an den Rändern des politischen Spektrums. Man denke an Figuren wie Donald Trump und Phänomene wie Fake News, aber auch an die Identitätspolitik des linken Lagers, bei der man bisweilen den Eindruck gewinnen kann, dass subjektive Befindlichkeiten zum Ausgangspunkt politischer Forderungen gemacht werden. Diese allumfassende Emotionalisierung hat sicher das Interesse geweckt, die Rolle von Emotionen in vergangenen Epochen besser verstehen zu wollen – nicht nur in Hinblick auf individuelle Erfahrungswelten, sondern insbesondere auch in ihrer sozialen und politischen Bedeutung.
Letztlich ist das Interesse an der Emotionsgeschichte aber auch die konsequente Fortführung der Hinwendung zu stärker sozialgeschichtlichen Fragestellungen, die schon seit vielen Jahrzehnten zu beobachten ist. Bei mir persönlich hat sich das Interesse geradezu selbstverständlich aus der archäologischen Geschlechterforschung ergeben: Ich habe mich mit Mutterschaft in der griechischen Antike befasst und bin dabei von der berühmten These von Elisabeth Badinter ausgegangen, die Mutterliebe sei ein Konstrukt des 18. Jahrhunderts. Dem ist entschieden zu widersprechen: Die Zeugnisse der griechischen Antike lassen keinen Zweifel, dass die Zuneigung einer Mutter zu ihren Kindern als naturgegeben galt – Frauen wurden gar als philoteknon genos, als „kinderliebendes Geschlecht“ bezeichnet. Doch anstatt die naturgegebene Mutterliebe zu fördern oder gar ideologisch zu überhöhen, waren die damaligen Verhaltens- und Gefühlsregeln darauf ausgerichtet, diese angeborene Disposition zu regulieren und einzudämmen – das war nicht nur angesichts der hohen Kindersterblichkeit von Vorteil, sondern entsprach auch dem gesamtgesellschaftlichen Ideal eines wohltemperierten Gefühlslebens. Die spezifischen Konzepte von Mutterliebe sind untrennbar mit den jeweiligen Lebensbedingungen und der gesellschaftlichen Ordnung verbunden. Emotionsforschung ist also kein Selbstzweck, sondern essentieller Bestandteil von sozial- und kulturgeschichtlicher Forschung.
Die antiken Bildzeugnisse sind in hohem Maße von Verhaltensidealen und Darstellungskonventionen geprägt. Inwieweit lassen sie Aussagen über reale Gefühlswelten zu? Und greifen wir mit ihnen Elitenphänomene oder können wir auch Aussagen über umfassendere „emotional communities“ treffen?
Wer weiß schon, wie es im Inneren eines Menschen aussieht? Noch schwerer wird es natürlich, wenn wir als Historiker*innen versuchen, die Gefühlswelten antiker Menschen zu rekonstruieren.
Gerade die griechische Klassik ist ja wie keine andere Epoche vom Ideal der Selbstbeherrschung und Emotionskontrolle geprägt, das zeigt sich auch und vor allem in den Bildern. Expressive Gefühlsäußerungen werden bis auf wenige Ausnahmen auf marginalisierte Gruppen ausgelagert: Fremde, Sklaven, Kinder, bis zu einem gewissen Grad auch Frauen. In der antiken Literatur finden sich zum Glück nicht nur diese normativ überhöhten Darstellungen, sondern ein bunter Strauß an individuellen Emotionen, die ganz bewusst mit den Erwartungen brechen: Da tummeln sich weinende Helden und renitente Ehefrauen, untreue Gefährten und gerechte Barbaren, triebgesteuerte Herren und edle Sklaven, um nur einige zu nennen. Bei solchen normabweichenden Darstellungen war man früher schnell damit, sie als Gegenbilder zu deuten – eine verkehrte Welt. Das stimmt bis zu einem gewissen Grad auch, aber bei aller literarischen Stilisierung zeigen uns die Quellen eben doch die enorme Bandbreite dessen, was emotional alles möglich war in der Antike.
Und das führt zur zweiten Frage: In den literarischen Zeugnissen ist der Filter einer Elitenkultur sicher stärker als bei visuellen und materiellen Zeugnissen. Ausgerechnet hier aber finden sich die meisten Abweichungen von der Norm. Auch die Bilderwelt mag in großen Teilen die Bedürfnisse und Erwartungen einer Elite bedient haben, aber es waren doch Handwerker wie Vasenmaler, die diese Bilderwelt schufen und die nicht der Elite angehörten. Bei den Grabreliefs oder auch den weißgrundigen Grab-Lekythen mit ihren reichen Bildern darf man sich auch fragen, ob nicht Frauen an der Auswahl beteiligt waren – schon wegen ihrer zentralen Rolle bei Trauer- und Bestattungsritualen. Daher können wir schon davon ausgehen, dass die hier greifbaren Verhaltens- und Gefühlsideale gesamtgesellschaftlich getragen wurden.
In Deiner Arbeit zur Mutterliebe zeigst Du unter anderem, dass es in der griechischen Antike keine Entsprechung zu einem umfassenden Begriff der „Liebe“ gab. Wie gehen wir am besten methodisch damit um, dass die Abgrenzungen von Emotionen in der Antike und unserer Gegenwart nicht deckungsgleich sein müssen?
Es lohnt sich immer, bei den antiken Begriffen anzusetzen und zu fragen, welche semantischen Felder sie eröffnen, welche Konzepte sie transportieren und wo ihre Mehrdeutigkeiten liegen. Unsere „Liebe“ ist ja ein weiter Sammelbegriff: die Liebe zu einem Freund, zu einem Kind, erotisches Begehren und romantische Liebe, aber beispielsweise auch die Liebe zur Natur – all das kann darunterfallen. Der altgriechische Begriff philia kommt dem vielleicht am nächsten: er ist ähnlich vielschichtig und umfasst formale Geschäftsbeziehungen ebenso wie die Verbundenheit zwischen Familienmitgliedern und noch vieles mehr. Allerdings ist philia immer reziprok gedacht, setzt also ein Gegenüber voraus. Gemeinsam ist allen Formen von philia stets der Aspekt der gegenseitigen Verpflichtung und des Füreinander-Einstehens, der in unseren modernen Vorstellungen von Liebe nicht unbedingt im Vordergrund steht. Ein ähnliches Phänomen zeigt sich bei dem griechischen Begriff storgê, der vor allem zur Beschreibung von Eltern-Kind-Beziehungen auftaucht und nicht nur gegenseitige Zuneigung, sondern auch Fürsorge und Pflege bedeuten kann. Bei antiken Konzepten von Liebe geht es also stärker als bei uns um gegenseitiges Pflichtgefühl und um entsprechendes Handeln. Wenn man von den antiken Begrifflichkeiten und deren vielfältigen Bedeutungsfeldern ausgeht, wird man auch die Bilder besser verstehen und neben dezidierten Gesten der Zuneigung auch Darstellungen der tätigen Sorge als Ausdruck von philia deuten können.
In Deinen jüngeren Arbeiten zeigst Du, dass es für die Frage nach Emotionen in antiken Bildmedien nicht genügt, nur auf die Gestik und Mimik der Figuren zu achten. Vielmehr hast Du ein „Mehrkomponentenmodell“ entwickelt, mit dem sich Emotionen in Bildwerken analysieren lassen. Kannst Du den Ansatz an einem Beispiel erläutern?
Entwickelt wäre zuviel gesagt. Ich habe versucht, antike Emotionsmodelle aus philosophischen und literarischen Texten auf die Bilder zu übertragen, um diese auch jenseits von dezidierten Gefühlsäußerungen auf ihren emotionalen Aussagewert hin zu befragen. Für Aristoteles zum Beispiel umfasst pathos, also ein akutes Gefühl, mehrere Komponenten: Die rationale Bewertung einer Situation, ein daraus entstehendes Gefühl von Lust oder Schmerz, eine körperliche Reaktion und ein Handlungsimpuls. Die Übereinstimmungen zu modernen Emotionsmodellen sind zunächst verblüffend. Doch erstaunlicherweise fehlt bei Aristoteles eine Komponente, die wir heute als zentral erachten, nämlich die des (mimischen, gestischen oder verbalen) Ausdrucks von Emotion. Der Grund dafür ist im Verhaltensideal der Emotionskontrolle zu suchen, das Äußerungen von akutem pathos nicht vorsieht. Natürlich haben die Menschen auch in der Antike schon geweint und gelacht – doch keiner wäre auf die Idee gekommen, dass man weinen muss, wenn man traurig ist.
Vor diesem Hintergrund müssen auch die Bilder anders gelesen werden, wir haben es bei der Mutterliebe ja bereits angedeutet. Ein anderes Beispiel ist die Trauer beim Tod eines Angehörigen: Bei den expressiven Klagegesten wie dem Raufen der Haare oder dem Zerkratzen der Wangen, wie wir sie massenhaft auf Grabgefäßen finden, handelt es sich in erster Linie um hochgradig ritualisierte Formeln, nicht um individuellen Schmerz. Es gibt aber auch Bilder auf weißgrundigen Lekythen, die den Besuch am Grab zeigen und ganz ohne solche Trauerexzesse auskommen. Da sieht man dann in sich gekehrte Frauen, die sich einer Grabstele nähern, um dort Gaben niederzulegen. Doch für die antiken Betrachter mag dies genügt haben, um die dargestellte Situation als eindringliches Bild der Trauer zu interpretieren. Anstelle mimischer oder gestischer Trauerformeln wird uns eine Situation präsentiert, die auch nach antiken Vorstellungen Trauer auslöste: der Tod eines Angehörigen. Die dargestellte Tätigkeit der Grabpflege wiederum kann als emotional motivierter Handlungsimpuls verstanden werden, das Andenken des Verstorbenen zu ehren. Bei diesen Bildern haben wir es also mit dem tätigen Ausdruck einer über den Tod hinausgehenden philia zu tun. Hochgradig emotional!
Aber wie lässt sich am besten beschreiben, inwieweit die Bilderwelt nicht nur emotionale Normen und Ideale zum Ausdruck bringt, sondern eben auch zurückwirkt auf „emotional regimes“ der Lebenswelt?
Wenn wir es in den Bildern und Texten mit einer doppelten Codierung von Emotion zu tun haben, dann stellt sich nun die Frage nach den Rückkopplungseffekten zwischen Repräsentationen von Emotionen und emotionalem Empfinden. Es geht darum, wie Bilder und Texte das prägten, was antike Menschen tatsächlich fühlten. Das können wir für die Antike selten fassen, aber es helfen kulturvergleichende Studien und zu einem gewissen Grad auch die eigene Erfahrung, die doch deutlich zeigen, wie stark kollektive Gefühls- und Verhaltensideale das individuelle Empfinden prägen. Es ist zum Beispiel hinlänglich bekannt und gut untersucht, wie tiefgreifend die Hollywood-RomComs unsere Vorstellungen von romantischer Liebe geprägt haben: Spaziergänge am Strand, Candle-Light-Dinner, Rosen zum Valentinstag – das sind überindividuelle Glücksverheißungen, die ganze Generationen von Liebenden geprägt haben. Man kann sie natürlich auch ablehnen – aber man muss sich immer zu ihnen verhalten.
In welche Richtung werden sich Deine eigenen Forschungen zu Emotionen in der Antike künftig entwickeln?
Ganz konkret befasse ich mich derzeit mit dem Motiv des gefesselten Eros in der griechisch-römischen Bilderwelt und Literatur. Das Bild des in Ketten gelegten Liebesgottes ist zunächst als gerechte Strafe für all die Missetaten zu deuten, die er unglücklich verliebten Menschen und Göttern angetan hat. Zugleich ist der gefesselte Eros aber auch die Verkörperung der mit dem Begehren einhergehenden Ohnmacht – man spricht ja auch heute noch von den Fesseln der Leidenschaft. Das Thema gehört in das weitere Feld der Emotionsmetaphern, zu denen ich auch Allegorien und Personifikationen zähle. In der antiken Bilderwelt werden Gefühle und andere subjektinterne Phänomene häufig auf externe Repräsentanten oder Bildzeichen ausgelagert, weil etwa die Mimik und Gestik der Figuren nicht ausreichen, um eine komplexe Aussage zu treffen.
Das zweite Thema hat mit den erwähnten „looping“-Effekten zu tun. Es geht also darum, wie Emotionen in der griechischen und römischen Antike durch literarische und bildliche Diskurse, aber auch durch bestimmte Verhaltens- und Gefühlscodes immer weiter verfeinert und kulturell spezifiziert wurden. Das ist sicher ein Thema, das dezidiert Oberschichtenphänomene in den Blick nimmt – ich spreche da von „sophisticated emotions“. Es geht mir darum zu verstehen, wie sich Eliten durch eine bestimmte Art, sich zu verhalten, zu sprechen und Dinge visuell zu codieren, einen bestimmten Gefühlshaushalt angeeignet haben – solche Effekte kennen wir für andere Epochen ja zu Genüge, man denke etwa an die Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert.
Als Archäolog*innen bedienen und erzeugen wir ja auch selbst Gefühle, etwa im „story telling“ von Ausstellungen, mit medialen Rekonstruktionen antiken Lebens, bei Ausgrabungen in Gemeinschaften vor Ort. Inwieweit ergeben sich aus Deinen Forschungen zu antiken Emotionen Reflexionen für die emotionale Dimension archäologischer Praktiken in der Gegenwart?
In der deutschsprachigen Archäologie sind wir mit Emotionen ja eher zurückhaltend. Das hat sicher mit dem Ideal einer rein rationalen und damit nicht kompromittierbaren Wissenschaft zu tun, die trocken, nüchtern, distanziert und eben emotionslos daherkommen soll, durchaus im Kontrast zur englischsprachigen Forschung, die stärker noch „grand narratives“ wagt. Ich würde mir wünschen, dass wir als Wissenschaftler*innen wieder bewusst mit Emotionen umgehen, nicht nur in Ausstellungen und in der Wissenschaftskommunikation, wofür es gelungene Beispiele gibt. Aber auch im Fachdiskurs sollten wir emotionale Komponenten fruchtbar einsetzen. Dafür grundlegend ist die Erkenntnis, dass man ohne Emotionen kaum denken, also auch nicht Wissenschaft betreiben kann. In Wahrheit sind wir heute – wegen der Gemengelage, über die wir zu Beginn sprachen – alle hochgradig emotionalisiert, auch wir als Wissenschaftler*innen, und daher müssen wir einen reflektierten Umgang mit Emotionen finden. Und dafür kann die historische Emotionsforschung eben wichtige Erkenntnisse liefern. Bei Plutarch gibt es dazu ein schönes Gleichnis: Für ihn sind Gefühle im Verhältnis zur Vernunft wie Pferde im Verhältnis zum Wagenlenker; es sind dienstbare Tiere, die man zu lenken wissen sollte, ohne ihnen gänzlich die Sehnen herauszuoperieren.
Also wieder mehr antik fühlen?
Ja, absolut!
Danke für das Gespräch.
Viktoria Räuchle ist – nach Stationen in Wien, Berlin und New York – Akademische Rätin am Institut für Klassische Archäologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie hat breit zu emotionshistorischen Zugängen zur griechischen Antike publiziert, etwa zu Mutterschaft, Liebe und Erotik, aber auch zur Funktionalisierung von Emotionen, und forscht insgesamt zur visuellen Kultur vor allem Athens.