Die Kauernde Aphrodite – schöne Scham

Margarethe Hnoysky

Foto: IKA, Kristina Klein

Kauernde Aphrodite oder Aphrodite des Doidalses
Rom, Vatikanische Museen, Museo Pio Clementino, Gabinetto delle Maschere, Inv. 815
kaiserzeitliche Kopie des 2. Jahrhunderts n. Chr. nach griechischem Original vermutlich aus zweiter Hälfte 3. Jahrhundert v. Chr.
Abguss: Wien, Archäologische Sammlung, Inv. 1393; Zeitpunkt der Erwerbung unbekannt

Das Antlitz der Göttin

Aphrodite ist die Göttin der Liebe, Schönheit und Sexualität. Im Folgenden soll es um ein Bildwerk dieser Göttin gehen, nämlich um die Statue der Kauernden Aphrodite. Wer sah sie? Wo stand sie? Und inwieweit schämt sie sich?

Die Kauernde Aphrodite ist eine unbekleidete weibliche Figur in einer hockenden Haltung. Den rechten Arm hält sie vor der Brust, die sie so teilweise verdeckt. Ihr linker Unterarm ruht auf dem linken Oberschenkel und verbirgt mit ihrer entspannt ausgestreckten Hand ihre Scham. Sie hält den Oberkörper nach links gedreht und nach rechts geneigt. Sie wendet ihren Kopf nach rechts und blickt leicht nach unten. Die durch die kauernde Haltung entstandenen Bauchfalten sind fein ausgearbeitet. Im Allgemeinen vermittelt die gesamte Figur einen sehr weichen Eindruck. Ihre Haltung wirkt beschämt und subtil abwehrend, während ihr Blick leicht erschrocken anmutet. Da sie mit der linken Gesäßhälfte auf einer Amphore sitzt (vielleicht hat sie diese zum Wasserschöpfen benutzt), geht man davon aus, dass der Betrachtende die Göttin beim Baden überrascht hat. Die gesamte Komposition wirkt wie eine dynamische Momentaufnahme, als wäre die Figur in ihrer Bewegung eingefroren.

Foto: IKA, Kristina Klein

Fehlende Hände – zur Wiederherstellung und Ergänzung

Von der Kauernden Aphrodite des Doidalses gibt es zahlreiche kleinformatige Um- und Weiterbildungen und großplastische Wiederholungen aus Marmor. Obwohl deren Erhaltungszustand unterschiedlich ist, erlauben diese zahlreichen Wiedergaben der verlorenen Originalstatue eine Rekonstruktion, welche dieser hinsichtlich der Figur und deren Haltung sehr nahekommt. Da bei allen Kopien Teile der Hände fehlen, ist dies eine Unsicherheit bei der Wiederherstellung. Zur Ergänzung eignet sich am besten die im British Museum gezeigte Lely Venus (Royal Collection Trust), da hier nur die Finger an der rechten Hand und der linke Unterarm weggebrochen sind. Es ist allerdings unklar, aus welchem Material das Original geschaffen war, nämlich Marmor oder Bronze. Die genaue Größe des Originals und die Frage, ob ein kleiner Eros zur Komposition gehörte, bleiben gleichfalls offen.

Ein Unikat?

Eine ähnlich schamhafte Geste ist bei der sogenannten Kapitolinischen Venus (Kapitolinische Museen, Inv. MC0409) zu erkennen. Sie hält gleichermaßen die Hände vor dem Körper, wendet den Blick zur Seite und reagiert mit einer spontan anmutenden Schamgeste auf einen imaginären Betrachter. Generell wird die Göttin in spätklassischer und hellenistischer Zeit in verschiedenen Situationen des Alltags dargestellt, insbesondere beim Baden. Die erste komplett nackte lebensgroße Statue der Aphrodite schuf der Bildhauer Praxiteles um 350/340 v. Chr., nämlich die Knidische Aphrodite, von der etwa fünfzig rundplastische Statuenkopien und viele weitere Wiedergaben in anderen Medien und Formaten überliefert sind (z.B. Glyptothek München, Inv. 258). Dieser Statuentyp zeigt die Göttin, wie sie ihr Gewand auf ein Gefäß fallen lässt (oder von diesem anhebt) und mit ihrer rechten Hand ihre Scham bedeckt, und auch sie wendet den Blick vom Betrachtenden ab.

Oh my! – die Emotion der Scham

Die Emotion der Scham wird beispielsweise relevant, wenn man in einer unpässlichen Situation von den falschen Leuten gesehen wird; darüber hinaus kann Scham auch eine Reaktion auf die Kritik von anderen sein. In beiden Fällen kommt der Wunsch auf, unsichtbar zu werden oder sich zu verstecken – genau dies scheint bei der Kauernden Aphrodite, aber auch bei der Kapitolinischen Venus und bei der Knidischen Aphrodite der Fall zu sein. Aphrodite wird völlig nackt beim Baden erwischt, und ihre Handhaltung und das Abwenden des Blickes sind typische Schamgesten.

Weibliche Nacktheit war in der griechischen Öffentlichkeit nicht toleriert, wohingegen männliche Nacktheit in der Bilderwelt idealisiert und im Alltag auch gelebt wurde, etwa beim Sport. Das Erleben von Scham bedeutet also, dass eine Handlung oder Situation in die Kategorie des Schändlichen eingeordnet wird, wofür eine subjektive Einstellung und kulturelle Normen bestimmend sind. Daher ist es verständlich, dass die erste Darstellung einer nackten Aphrodite, nämlich die Knidische Aphrodite, Aufsehen erregte.

Was mach’ ich jetzt? – Reaktionen der Betrachtenden

Der scheue Blick und das Abwenden des Kopfes gelten als spontane, instinktive Reaktion einer Person, die von ungebetenen Blicken überrascht wird. Wie schon angedeutet, entsteht dadurch die Illusion einer plötzlichen Begegnung eines Betrachtenden mit einem vermeintlich lebendigen Gegenüber. Jedoch „reagiert“ nicht nur die Statue, sondern auch ein Betrachtender – und nicht alle Betrachtenden reagieren auf dieselbe Weise auf das Kunstwerk. Derselbe Beobachtende kann auch in verschiedener Weise zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf dasselbe Werk reagieren. Wenn man die Statue nun als eine Art Kommunikationsmittel betrachtet, kann zumindest bis zu einem gewissen Grad eine vergleichbare Reaktion von verschiedenen Betrachtenden erwartet werden.

Die Überlegungen zu den Betrachtenden und deren Reaktion werfen auch die Frage nach dem einstigen Aufstellungsort der Statue auf: Handelt es sich bei dieser Statue um ein sogenanntes Kultbild, das in einem Tempel stand, oder um eine von zahlreichen in das Heiligtum geweihten Statuen, also ein Weihgeschenk? Im Allgemeinen werden Darstellungen von Alltagshandlungen, wie etwa Baden und Körperpflege, nicht mit Kultbildern in Verbindung gebracht. Jedoch findet sich auch in archaischen Hymnen auf Aphrodite das Motiv der Körperpflege, das somit fest zur Göttin der Liebe und Schönheit gehört. Auch die Knidische Aphrodite diente als Kultbild. Demnach ist es also durchaus möglich, dass Doidalses diese Statue für ein Heiligtum schuf. Mit dieser Darstellung der kauernden Göttin wurde einem Besucher des Heiligtums das Erlebnis gewährt, Aphrodite in einer greifbaren Realität und in einer „echten“ Situation beim Baden zu ertappen. Die Inszenierung dieser Situation erinnert an Helden aus der griechischen Mythologie, die zufällig eine badende Gottheit überraschen, was dem jeweiligen Helden natürlich zum Verhängnis wird. Solche Parallelen mit mythischen Erzählungen steigerten sicherlich den emotionalen Effekt der Begegnung, welche die Kauernde Aphrodite simuliert, vermutlich für im Wesentlichen männliche Betrachter.
 

Weiterführende Literatur

  • D. L. Cairns, Aidos. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature (Oxford 1993).
  • R. Lullies, Die Kauernde Aphrodite (München 1954).
  • W. Neumer-Pfau, Studien zur Ikonographie und gesellschaftlichen Funktion hellenistischer Aphrodite-Statuen (Bonn 1982).
  • R. Osborne, Looking on – Greek style. Does the Sculpted Girl Speak to Women too?, in: I. Morris (Hrsg.), Classical Greece. Ancient histories and Modern Archaeologies (Cambridge 1994) 81–96.
  • R. Sturm, Kauernde Aphrodite. Die Bedeutung des Bildmotivs in der antiken und postantiken Kunst (Hamburg 1971).
  • P. Zanker, Eine Kunst für die Sinne. Zur hellenistischen Bilderwelt des Dionysos und der Aphrodite (Berlin 1998).