Emotionen eines Besiegten: Der Gallier aus dem Kleinen Attalischen Weihgeschenk
Nicole Aspalter
Gallier, sog. „Breakdancer“, aus dem Kleinen Attalischen Weihgeschenk
Venedig, Archäologisches Nationalmuseum, Inv. 55
kaiserzeitliche Kopie des 2. Jahrhunderts n. Chr. nach griechischem Original aus spätem 3. oder 2. Jahrhundert v. Chr.
Abguss: Wien, Archäologische Sammlung, Inv. 1352; Übernahme 1904 von Österreichischem Museum für Kunst und Industrie
Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Sieger können entscheiden, wie sie sich selbst darstellen. Sieger können auch entscheiden, wie sie ihre Gegner darstellen. Genau das lässt sich bei dem Kleinen Attalischen Weihgeschenk beobachten. Wie dachten Griechinnen und Griechen der Antike über ihre Feinde? Wie stellten sie diese dar? Welche Charakteristika der Feinde sollten in der Ikonographie besonders verdeutlicht werden?
Das so genannte Kleine Attalische Weihgeschenk befand sich gemeinsam mit drei anderen Statuengruppen vor der Südmauer der Athener Akropolis. Dort waren vier unterlebensgroße Statuengruppen von sowohl mythischen als auch historischen Kämpfen aufgestellt, nämlich gegen die Giganten, Amazonen, Perser und Gallier. Das Kleine Attalische Weihgeschenk zeigte den siegreichen Kampf gegen die Gallier. Die Statuengruppe wird verschieden rekonstruiert und insbesondere ist strittig, ob die Besiegten allein oder mit der Reiterstatue eines Siegers in der Mitte dargestellt waren.
Seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. fielen immer wieder Gallierstämme in Kleinasien und in dem Gebiet um Pergamon ein. Attalos I. konnte 238/7 v. Chr. die Gallier zurückschlagen, wodurch er die Herrschaft der Familie der Attaliden in Pergamon etablierte, die zu den militärischen Mächten des Hellenismus aufstieg. Plinius der Ältere (1. Jahrhundert n. Chr.) berichtet von weiteren Einfällen der Gallier und hält fest, dass diese schließlich von Eumenes und Attalos besiegt wurden. Jedoch erwähnt er nicht, um welchen Attalos es sich handelte. Für eine Datierung werden deshalb verschiedene Ansatzpunkte herangezogen. Wenn mit historischen Ereignissen argumentiert wird, schreibt die Forschung das Weihgeschenk Attalos I. (König von 241–197 v. Chr.) zu. Wird jedoch mit stilistischen Phänomenen argumentiert, so wird das Weihgeschenk meist in die Zeit von Attalos II. datiert (König von 159–138 v. Chr.).
Zur Statuengruppe gehört die Statue eines Galliers, die in der Forschung auch als „Breakdancer“ geläufig ist. Die Skulptur zeigt einen jungen Mann, der in einer letzten Bewegung versucht, seinem unausweichlichen Schicksal zu entkommen. Der waffenlose und nackte Gallier ist rücklings gestürzt, fängt sich aber kurz über dem Boden mit der rechten Hand auf. Er stützt sich zusätzlich mit seinem rechten Fuß und seiner linken Ferse vom Boden ab. Sein Oberkörper ist leicht nach rechts, zu den Betrachtenden, gedreht. Seine linke Hand ist wie zur Verteidigung über das Gesicht gehoben und in seiner Mimik ist die Niederlage klar zu erkennen. Der Gallier blickt hinauf zu seiner linken Hand oder vielleicht zu der Reiterstatue, die in manchen Rekonstruktionen ergänzt wird. Seine Haare fallen in ungeordneten Büscheln zu allen Seiten. Die erschrockenen Augen des Galliers sind weit geöffnet und seine Augenbrauen sind zusammengezogen, wodurch sich senkrechte und waagerechte Falten auf der Stirn bilden. Seine Nase ist groß mit einem Höcker in der Mitte und einer knolligen Nasenspitze. Die vollen Lippen des Galliers sind leicht geöffnet.
Ein gefühlvoller Barbar?
Eine typische Konvention antiker Bildkunst war es, bestimmte Personen, wie Athleten, Helden oder eben Gallier, nackt darzustellen. Doch Nacktheit, hier spezifisch bei Männern, kann Verschiedenes ausdrücken. So kann sie einerseits männliche Schönheit betonen, was durchaus auf den Gallier zutreffen kann, der sehr athletisch und schlank dargestellt wird. Aber Nacktheit kann auch Schutz- und Hilflosigkeit, aber auch Unterlegenheit visuell betonen. Der Besiegte wird nicht nur ohne Kleidung, sondern auch ohne Waffen und Rüstung gezeigt. Er muss sich seinem Gegner gewissermaßen entblößt und ohne Verteidigungsmöglichkeiten stellen. Die Darstellung des Besiegt-Seins wird durch die Nacktheit also noch verdeutlicht. Das Schicksal des Galliers ist bereits besiegelt, es fehlt nur ein letzter Stoß des imaginären Gegners.
Ein Indiz für das „Fremde“ an der Statue ist im Gesicht zu erkennen. Die Haartracht des Galliers ist auffallend bauschig und ungeordnet. Die Haare von Statuen von griechischen Männern werden im Vergleich dazu geordneter und kultivierter dargestellt. Es war beabsichtigt, die Gallier als Fremde, Barbaren und Feinde der griechischen Kultur darzustellen, was beispielsweise auch die Mimik des Galliers verdeutlicht. Die Augen sind weit geöffnet, die Augenbrauen in Angst und Verzweiflung zusammengezogen. Auch der Mund ist leicht geöffnet. Das Zusammenspiel der Merkmale im Gesicht übermittelt Qual und Pein.
Die Art und Weise, wie Emotionen hier dargestellt werden, kann mit dem Konzept der Pathosformel erschlossen werden. Die Pathosformel ordnet einer Darstellungskonvention eine emotionale Bedeutung oder Aufladung zu und ist in der Kunst wiederholbar und wiedererkennbar. Aby Warburg (1866‒1929), der das Konzept der Pathosformeln prägte, sprach von diesen auch als den „Superlative(n) der Gebärdensprache“. Dabei werden Gesten verwendet, um die dargestellte Emotion zu verdeutlichen. Der Begriff „Pathos“ beschreibt einen akuten Gefühlszustand als Reaktion auf eine gegenwärtige Situation. Im Fall des Galliers handelt es sich dabei um die Verzweiflung angesichts des bevorstehenden Todes.
Eine weitere Art, wie Pathos in der Figur des Galliers dargestellt wird, ist die erhobene linke Hand. Die Geste könnte als letzte Form der Verteidigung interpretiert werden. In der griechischen visuellen Kultur wurde diese Geste aber vor allem verwendet, um eine sehr starke Emotion wie Angst darzustellen. Aristoteles formulierte im zweiten Buch der Rhetorik (1382a5, Übersetzung: Gernot Krapinger): „Furcht sei definiert als eine gewisse Art von Kummer und Beunruhigung auf Grund der Vorstellung eines bevorstehenden verderblichen oder schmerzhaften Übels.“ Interpretiert vor diesem Hintergrund wird die Bedeutsamkeit der Emotionen des Galliers verstärkt.
Mitleid oder Stolz: Was fühlten die Betrachtenden?
Betrachtet man die Statue ohne jeglichen Kontext, verspürt man möglicherweise Mitleid für einen Sterbenden und interpretiert das Kleine Attalische Weihgeschenk nach dem heutigen Verständnis als ein Mahnmal gegen Krieg und Gewalt. Doch das ist weit entfernt vom Verständnis in der griechischen Antike. Die Menschen betrachteten den Gallier auf der Athener Akropolis gemeinsam mit anderen Gruppen, die besiegte Gegner zeigten. Diese erinnerten die Betrachtenden an Gefahren für ihre Lebensweise und verdeutlichten in ihrem Verständnis ein direktes Gegenteil zur eigenen Kultur.
Eine definitive Antwort zu geben, was die Betrachtenden gefühlt haben, ist natürlich nicht möglich. Die Emotionen haben vermutlich variiert, je nachdem, in welchem Verhältnis der oder die Betrachtende zu den Galliern stand. Jemand, der selbst gegen die Gallier gekämpft hatte, fühlte womöglich Stolz über den Sieg und Zorn über Verluste im Kampf. Andere Betrachtende fühlten vielleicht Erleichterung, auf der siegreichen Seite zu sein. Die Interpretation der Statue und deren Wirkung auf die eigene Gefühlslage waren also durchaus von persönlichen Erfahrungen abhängig.
Bei der Darstellung von Feinden lassen sich also einige stilistische Entscheidungen erkennen. Es war den Griechinnen und Griechen wichtig, sich in den Bildwerken visuell von ihren Gegnern zu unterscheiden und abzuheben. Auch die deutlich vermittelte Angst in den Zügen des Galliers steht im Kontrast zum Ideal der von Emotionen befreiten Mimik der Griechinnen und Griechen. Den antiken Betrachtenden lässt sich zwar nicht mit Sicherheit eine Emotionen zuweisen es ist jedoch naheliegend, dass sie nicht Mitleid mit den Besiegten und Trauer um diese verspürten, sondern eher Zufriedenheit, Erleichterung und Stolz angesichts des Sieges Pergamons.
Weiterführende Literatur
- H. Engel, Feindbilder im Hellenismus, in: C. Klose u.a. (Hrsg.), Fresh Perspectives on Graeco-Roman Visual Culture. Proceedings of an International Conference at Humboldt-Universität, Berlin, 2nd–3rd September 2013 (Berlin 2015) 35–57.
- T. Hölscher, Die Geschlagenen und Ausgelieferten in der Kunst des Hellenismus, AntK 28, 1985, 120–136.
- E. Kistler, Funktionalisierte Keltenbilder. Die Indienstnahme der Kelten zur Vermittlung von Normen und Werten in der hellenistischen Welt (Berlin 2009).
- C. Kunze, Zum Greifen nah. Stilphänomene in der hellenistischen Skulptur und ihre inhaltliche Interpretation (München 2002) 221–237.
- A. Stewart, Attalos, Athens, and the Akropolis. The Pergamene „Little Barbarians” and their Roman and Renaissance Legacy (Cambridge 2004).
- B. Walcher, Ästhetik und Germanentum, in: S. Keppler-Tasaki ‒ W. G. Schmidt (Hrsg.), Zwischen Gattungsdisziplin und Gesamtkunstwerk (Berlin 2015) 97–122.