Die Kunst des Schmerzes – die bewegende Geschichte der Laokoongruppe

Amelie Hochgerner

Foto: IKA, Kristina Klein

Rom, Vatikanische Museen, Museo Pio Clementino, Inv. 1059
vermutlich 1. Jahrhundert n. Chr., alternativ 2./1. Jahrhundert v. Chr., gelegentlich angesehen als frühkaiserzeitliche Kopie eines hellenistischen Originals
Abguss: Wien, Archäologische Sammlung, Inv. 298; Erwerbung 1887

Die Tragödie von Laokoon

„(Ein) Werk, das allen Werken der Malerei als auch der Bildhauerkunst vorgezogen werden muss.“

Plinius, Naturalis historia 36.37 (Übersetzung: Roderich König)

Wie schon Plinius der Ältere (1. Jahrhundert n. Chr.) hervorstrich, ist die Laokoongruppe ein antikes Meisterwerk. Sie fängt einen Moment großen Schmerzes ein und spiegelt die Tragik jenes Mythos wider, der sich um den trojanischen Priester Laokoon rankt. In Vergils (1. Jahrhundert v. Chr.) Epos „Aeneis“ verläuft die Geschichte folgendermaßen: Um den Trojanischen Krieg für sich zu entscheiden, bauen die Griechen ein hölzernes Pferd, in dessen Bauch sie eine bewaffnete Mannschaft verstecken. Dieses Pferd schenken sie den Trojanern und ziehen zum Schein ab. Das Volk Trojas nimmt das Geschenk an und jubelt, scheint die Belagerung doch nun vorbei und Troja siegreich zu sein. Der trojanische Priester Laokoon jedoch spricht eine Warnung aus und stößt seine Lanze in das hölzerne Pferd. Daraufhin schickt Athena, die Schutzgöttin der Griechen, zwei Seeschlangen, die Laokoon und seine Söhne töten. Laokoon und sein jüngerer Sohn sterben eines schmerzhaften Todes, während der ältere möglicherweise entkommt. Die Trojaner begreifen jedoch immer noch nicht, welche Gefahr von dem (heute sprichwörtlichen) Trojanischen Pferd ausgeht.

All dies verkörpert die Statuengruppe mit hoher Präzision. Was fühlt Laokoon in diesem Moment? Überwiegt körperlicher Schmerz oder quälen ihn vielmehr das Leid seiner Söhne und die Gewissheit, dass er seine Stadt nicht mehr retten kann?

Copyright by CC-BY-SA-4.0, Foto Livio Andronico (2014)

Die Laokoongruppe: Kampf gegen die Seeschlangen

Im Jahr 1506 wurde an einem Weinberg am Esquilin in Rom die Laokoongruppe gefunden. Die Bildhauer, vermutlich Hagesandros, Athanadoros und Polydoros von Rhodos, schufen eine Komposition, die sowohl physische als auch emotionale Qualen zum Ausdruck zu bringen scheint: Die Statuengruppe zeigt Laokoon und seine zwei Söhne, die nackt dargestellt sind und verzweifelt versuchen, zwei riesige Würgeschlangen abzuwehren. Der jüngere Sohn hängt fast leblos da, als eine Schlange in seine Leber beißt, während der ältere Sohn rechts von Laokoon von einer Schlange am linken Fuß und rechten Arm umschlungen wird. Laokoon selbst steht im Zentrum der Komposition, mit angespannten Muskeln und dramatisch nach hinten gelehntem Körper, während seine Beine und sein linker Arm von Schlangen umwunden sind. Der Kopf des Laokoon ist schräg nach links gedreht. Er hat schulterlange Haare und einen Vollbart. Sowohl der Bart, als auch die Haare bestehen aus großen, dichten Locken. Er hat stark gerunzelte Stirnfalten und zusammengezogene Augenbrauen, eine Höckernase, definierte Wangenknochen und hohl eingefallene Wangen. Sein Mund steht leicht offen.

Zwischen Leid und Legende

Die Laokoongruppe, vor allem Laokoon selbst, gilt als der Höhepunkt menschlichen Leidens in der antiken Bildwelt. Johann Joachim Winckelmann beschrieb den Schmerz des Laokoon als einen Akt der bewussten geistigen Stärke, die sich gegen den körperlichen Schmerz stemmt. Doch das Leiden des Priesters ist nicht nur physischer Natur. Er leidet nicht nur unter dem Biss der Schlange, sondern muss auch mitansehen, wie seine Söhne kurz vor einem schmerzhaften Tod stehen. Laokoons Gesichtsausdruck scheint zwar klagend und reuevoll, aber nicht schreiend. Denn es ist zu vermuten, dass nicht nur der körperliche Schmerz und das Mitgefühl für die Kinder ihn verletzen, sondern auch das Bewusstsein, dass der Tod der eigenen Söhne seine Schuld ist. Im Vergleich zu anderen Darstellungen des Schmerzes in der antiken Kunst, etwa der Gigantenschlacht auf dem Pergamonaltar, zeigt die Laokoongruppe eine einzigartige Mischung aus körperlicher Anspannung und seelischer Ruhe.


Die meisten griechischen Darstellungen betonen Zurückhaltung und Selbstkontrolle. Doch Laokoons verzerrte Gesichtszüge und die angespannte Körperhaltung zeigen deutlich die Überwältigung durch den emotionalen und körperlichen Schmerz, der ihn und seine Söhne befällt. Der Sterbende Gallier lässt sich vergleichend heranziehen: Während jedoch Laokoons Gesichtsausdruck einen intensiven, fast überwältigenden Schmerz vermittelt, scheint der sterbende Gallier ruhig und würdevoll sein Schicksal zu akzeptieren.

Dies wird auch relevant, wenn man die enge Verbindung zwischen dem Laokoon-Mythos, der Gründung Roms und der politischen „Propaganda” der Römer bedenkt. Die Figurengruppe wurde möglicherweise im Auftrag von Attalos II. von Pergamon geschaffen, um die trojanische Herkunft der Römer zu betonen. Bernard Andreae argumentiert, dass die Skulptur sowohl eine Mahnung an die Feinde Roms als auch eine Erinnerung an die trojanischen Wurzeln der Römer darstellte. Er betont, dass die Skulptur ein starkes Symbol für die Standhaftigkeit und den Triumph über das Schicksal sei. Diese Botschaft half, die römische Herrschaft als Fortsetzung der glorreichen Vergangenheit Trojas zu legitimieren und zu verherrlichen. Die Darstellung der Standhaftigkeit im Angesicht großen Leids unterstreiche die Macht und den unbesiegbaren Geist Roms.

Weiterführende Literatur

  • H. Althaus, Laokoon? Stoff und Form ²( Tübingen 2000).
  • B. Andreae, Laokoon und die Gründung Roms (Mainz am Rhein 1988).
  • B. Andreae, Laokoon und die Kunst von Pergamon. Die Hybris der Giganten (Frankfurt am Main 1991).
  • L. Giuliani, Laokoons Autopsie, Zeitschrift für Ideengeschichte 11, 2, 2017, 53–78.
  • S. Muth (Hrsg.), Laokoon. Auf der Suche nach einem Meisterwerk. Ausstellungskatalog Berlin (Rahden/Westf. 2017).
  • B. Neymeyr, Laokoon als Prototyp stoischer Schmerzbewältigung? Winckelmanns Deutung im Kontext ästhetischer Kontroversen, in: B. Neymeyr u.a. (Hrsg.), Stoizismus in der Europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik 1 (Berlin 2008) 343–364.
  • M.-A. von Hase Salto, Der „Laokoon” – Ein Mythos wird zum Kunstwerk, AW 38, 6, 37–45.