Zwischen Rausch und Ruin – der trunkene Schnippchenschläger

Elena Bott

Foto: IKA, Kristina Klein

Trunkener Satyr oder Schnippchen schlagender Satyr
Neapel, Archäologisches Nationalmuseum, Inv. 5628
römische Kopie vermutlich des späten 1. Jahrhunderts v. Chr. nach hellenistischem Original aus dem 3./2. Jahrhundert v. Chr.
Abguss: Wien, Archäologische Sammlung, Inv. 1370; Übernahme 1904 vom Österreichischen Museum für Kunst und Industrie

Es ist eine laue Sommernacht. Im flackernden Licht des Feuers und zum Klang von Flöten und Trommeln tanzen und lachen die Teilnehmenden eines Festes. Mitten in dieser ausgelassenen Feier springt ein Satyr aus der Menge hervor, das Gesicht rot vom Wein. Während er noch mit den Händen zum Rhythmus der Musik schnippt und die Melodie vor sich hin summt, lässt er sich, benebelt und lachend, auf einen nahen Felsen fallen. Er ist das Sinnbild von Ekstase und Übermaß, ein Wesen, das die Grenze zwischen Mensch und Tier, zwischen Beherrschung und Kontrollverlust verwischt.

So oder so ähnlich wird man sich die Szene vorstellen können, welche die Statue des sogenannten Schnippchenschlägers bzw. des Satiro ebbro (deutsch: betrunkener Satyr) erzählt. Wie der Name schon sagt, stellt die Rundplastik einen halb sitzenden, halb liegenden nackten Satyr dar. Seine Haltung erinnert an das Gefühl, sich nach zu vielen Gläschen Wein zufrieden auf eine Couch fallen zu lassen. Sein Körper sitzt zwar fest auf dem Felsen und ist dennoch in Bewegung. Das rechte Bein ist noch im Schwung, während er seinen rechten Arm in die Luft streckt und mit den Fingern schnippt, als würde er immer noch dem Takt einer Musik lauschen. Der überdimensionale Weinschlauch, auf dem er sitzt, quillt unter seiner Hüfte hervor, Teile eines Löwenfells, das über dem Felsen ausgebreitet ist, schlingen sich um seinen linken Unterarm. Den Kopf hat er weit in den Nacken gelegt, seine Haare fallen in wilden Locken um sein Gesicht, auf dessen Stirn kleine Hörner hervortreten. Auf dem Kopf trägt der Satyr einen Kranz aus Früchten, sogenannte Korymben. Die Augen hat der Satyr nach oben gerichtet, den Mund zu einem Lächeln geöffnet, was den Blick auf teilweise fehlende Zähne freigibt. Ein Gipsabdruck dieser Skulptur befindet sich seit 1904 in der Archäologischen Sammlung der Universität Wien. Zu bemerken ist, dass das römische Original, von dem der Gipsabdruck angefertigt wurde, an Teilen des Löwenfells, des Weinschlauchs und des Felsens modern rekonstruiert wurde.

Der Satyr – Begleiter der Ekstase

Die hellenistische Epoche war eine Zeit der kulturellen und künstlerischen Blüte, die sich in der Skulptur vor allem durch eine verstärkte Vorliebe für Realismus und Emotionalität auszeichnet. Im starken Kontrast zu den in klassischer Zeit vor allem emotionslosen, jugendlichen Gesichtern von Götter- und Menschendarstellungen wird in dieser Zeit auch ein Bild von „hässlichen“ Dingen gezeichnet, die ansonsten in der antiken Bilderwelt kaum eine Rolle spielten. Als Beispiel für eine gnadenlos realistische Darstellung kann etwa die Statue der sogenannten Trunkenen Alten gelten (Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke München).

Foto: IKA, Kristina Klein

Auf den ersten Blick erscheint unser Satyr dem Betrachter zunächst nur fröhlich, ausgelassen und lebensfroh. Wie andere Satyrstatuen aus dieser Zeit steht er für das Vergnügen des Rausches. Als Begleiter des Gottes Dionysos, der vor allem für Wein, Theater und Ekstase steht, spielen Satyrn eine wichtige Rolle in der hellenistischen Kultur und verkörpern den wilden und ungezähmten Aspekt des Dionysoskultes. Vor allem im Vergleich mit den moralischen und gesellschaftlichen Normen des „zivilisierten“ Bürgers steht er für „das Andere“, für den Kontrollverlust und den Rückfall zu animalischen Trieben und irrationalem Verhalten. Schon Euripides (5. Jahrhundert v. Chr.) warnte in seinem Schauspiel „Die Bakchen“ vor den zerstörerischen Folgen von Exzessen. Auch der Schriftsteller Xenophon (5./4. Jahrhundert v. Chr.) ermahnt zum Trinken in Maßen und verurteilt den übermäßigen Rausch (Xenophon, Symposion 2,24), genauso wie Plutarch (1./2. Jahrhundert n. Chr.) in seinen „Moralia“ oder Philon von Alexandria (1. Jahrhundert n. Chr.) in seinen Texten, die stark von der griechischen Philosophie und Moralvorstellung beeinflusst waren. Trotz dieser eigentlich eher negativen Konnotation waren die Satyrstatuen im Hellenismus und in der römischen Zeit ein beliebtes dekoratives Motiv, mit dem sich die reichere Bevölkerung Gärten und Innenhöfe schmücken ließ. Auch unser Schnippchenschläger stand als römisches Original an seinem ursprünglichen Aufstellungsort im Garten der Villa dei Papiri an einem langen Wasserbecken, begleitet von einer weiteren Skulptur, die einen schlafenden Satyrn darstellte (einen Eindruck von der Aufstellung vermittelt diese Rekonstruktion). Beide stehen für unterschiedliche Stadien eines Festes – trunkenes Herumlungern nach dem Tanz und das Ausschlafen des Rausches – im dionysischen Kontext.

Die Ambivalenz der Emotionen

Vor allem das Lächeln des Schnippchenschlägers sorgte in der Forschung des 19. Jahrhunderts dafür, dass er als ein Sinnbild für Heiterkeit und Lebenslust interpretiert wurde. Allerdings ist die Darstellung von lachenden Gesichtern ein für die hellenistische Zeit unkonventioneller Ausdruck von affektiv hervorbrechenden Emotionen, die man sonst selten bei Götter- oder Menschendarstellungen sieht.

Heute ist das breite Grinsen auf Fotografien eine natürliche Reaktion darauf, wenn jemand „Cheese!“ ruft. Dass dieses Phänomen vergleichsweise neu ist, zeigt eine Betrachtung von Bildern unserer Urgroßeltern. Auch damals ziemte es sich nicht, öffentlich zu lachen, dabei die Zähne zu zeigen oder gar laut loszulachen. Im Verlauf des Mittelalters beschäftigte sich die Kirche beispielsweise damit, ob es so etwas wie ein gutes und ein verwerfliches Lachen gäbe, ob man lachen dürfe und ob das Lachen mit dem christlichen Glauben vereinbar sei. Das Lachen scheint also über die Jahrtausende hinweg eine sehr ambivalent bewertete emotionale Reaktion gewesen zu sein. Bei unserem betrunkenen Satyrn spielt das Lachen gut mit der übrigen vielschichtig interpretierbaren Darstellung des Körpers zusammen. Denn bei genauerem Betrachten der Skulptur fallen dem Betrachter die negativen Details auf: der vom Alkoholmissbrauch leicht aufgedunsene Bauch, der Kopf, der vor Trunkenheit unkontrolliert in den Nacken fällt, die fehlenden Zähne, die schlaffe Haut, die sich über sehnige Muskeln legt.

Vielleicht war die Intention der Schaffung dieser Plastik neben einer Darstellung der offensichtlichen Freuden des Festes auch eine Warnung davor, was passieren kann, wenn man es mit dem Alkoholkonsum übertreibt und sich dabei nicht mehr im Griff hat. Damit spiegelt die Skulptur die gesellschaftlichen Gepflogenheiten im Umgang mit Festen wider: Trinken ja, aber immer in Maßen und mit genug Selbstkontrolle, um dadurch nicht zum Tier zu werden. So schön die Statue also im ersten Moment wirkte, idyllisch umgeben von Wasserspielen und Grünanlagen, so sehr könnte sie den beim Fest anwesenden Gästen auch eine Warnung gewesen sein. Die antike Gesellschaft sah in der Trunkenheit im dionysischen Kontext sowohl eine Form göttlicher Inspiration als auch eine Bedrohung für die soziale Ordnung und schuf sich mit Skulpturen wie dem Schnippchenschläger ständige Erinnerungen an die duale Natur des Menschen – der Suche nach Freude auf der einen Seite und die Notwendigkeit zur Selbstkontrolle auf der anderen.

Weiterführende Literatur

  • K. Lapatin, The Villa dei Papiri. Herculaneum and Malibu, in: A. Marzano (Hrsg.), The Roman Villa in the Mediterranean Basin. Late Republik to Late Antiquity (Cambridge 2018) 476−484.
  • C. C. Mattusch, The Villa dei Papiri at Herculaneum. Life and Afterlife of a Sculpture Collection (Los Angeles 2005).
  • F. Meynersen, Vom „Lachen“ in der griechischen Bildwelt. Dramaturgie und Wirkung, Kölner Beiträge zu Archäologie und Kulturwissenschaften 305, 2017, 264–294.
  • L. Pietilä-Castrén, A Piece of Dionysian Hilarity, Arctos 37, 2003, 115–122.
  • R. M. Schneider, Lust und Loyalität. Satyrstatuen in hellenistischer Zeit, in: T. Hölscher (Hrsg.), Gegenwelten zu den Kulturen Griechenlands und Rom in der Antike (Leipzig 2000), 351–389.
  • H. C. von Mosch, „Man kann sagen, der Silen sei gelehrt...“. Zum trunkenen Satyr aus der Villa dei Papiri im Kontext der Gründungsmythen von Nikaia, JNG 60, 2010, 71–117.